Brief, hschr., schwarze Tinte auf acht Seiten, die sich über vier Blätter dünnen, unlinierten Leinen-Brief­pa­piers er­strecken, deren erste drei an den Knickfalten und deren erste zwei zusätzlich am Kopf leicht ein­­ge­ris­sen sind; Papierformat 22×28,5 cm, also ca. 1 cm kürzer und 1 cm breiter als DIN-A4 – an­nä­hernd altes Quart­format; kein Umschlag. Evtl. ge­hö­ren drei Aufnahmen Friedels aus dem Herbst 1922 hie­­her (vgl. Brief 2/Anm. 2).

Stuttgart-Degerloch, den 13. Febr. 1923.

Ob. Weinsteige 8.1

 Liebe Käthe!

Gestern kam Dein Brief. Ich fand ihn in meinem Zimmer als ich von Hohenheim zurück kam.2 Da zwei Kameraden bei mir auf dem Zimmer waren so hab ich ihn dann einmal durchgelesen. 6 Abends als dann meine Kollegen sich verabschiedet hatten, es war schon recht spät, da konnte ich dann das Versäumte mit Muße nach holen und konnte dann ganz bei Dir sein. –8

Es ist heute auch schon nach Mitternacht, ich bin aber heute Abend noch recht frisch und hab mir vorgenommen Dir zu schreiben, auf daß Du nicht allzuviele Tage zu zählen brauchst. Hast ja so mit Zahlen oft genug zu tun3 und hierbei hab ich’s ja in der Hand Dir die Zählarbeit etwas leichter zu machen.

Käthe, Dein Brief hat mich außerordentlich gefreut und verdient hab ich einen solchen nicht, das weiß ich wohl. Aber daß ich dabei trotzdem Freude empfand, das darf ich Dir wohl sagen. Es ist ein Glück, daß Du solchen Kindern(!) nicht allzu böse sein kannst. Und ich nehm’s dankbar hin.

│ Aber wahr ist’s schon, es war nicht schön daß ich Dich so lange hab warten lassen. Aber wie <es> so geht ein Tag gibt den andern. Das Semester war übrigens recht bewegt, das heißt ich 19 war eben einigemale zwischendurch immer verschiedene Wochen lang fort. Ich war im Herbst 20 letzten Jahres kaum einige Zeit wieder vom Heimgarten4 hier, als eine Aufforderung zu einer Gebirgsübung nach der Schweiz kam und zwar nach Thun im Berneroberland.5 Die Zeit dort war recht schön, ich fand viele Kameraden von früher6 und vor allem durch die Gebirgsmärsche bei denen man neben dem rein militärischen doch auch immer Gelegenheit hatte für die Natur ein Auge zu haben. Wir zogen oft frühmorgens bei Dunkelheit fort in langer schmaler Kolonne7, die Tiere hinter uns nachführend,8 so gings steile Schluchten hinauf bis dann bei vollem Tagesanbruch schon eine schöne Höhe erreicht9 und die Sonne voll aufgegangen war. –– Es ist eben doch was Schönes, Allgewaltiges um die Berge. Dort wo man nicht fürchten muß bei jedem Tritte auf Menschen zu stoßen und man mit {der} tiefer liegenden Ebene auch all das unten gelassen hat was einem oft so kleinlich und alltäglich vorkommt, da fühlt man sich unwillkürlich freier ║2║ und auch leichter. Man spürt sich selbst wieder mehr. –– Aber es brauchen ja nicht immer gerade hohe Berge zu sein. Ich selbst fühle mich allerdings am wohlsten wenn ich hab ordentlich steigen müßen und es auch etwas Mühe gebraucht hat bis 33 man oben war. –– Aber ganz ähnlich so war’s als wir den einen schönen Sonntag auf die Asse gingen.10 Auf dem Heimweg hatten wir uns vor dem Walde gelagert und von dem Platze aus, konnte man so wunderschön über das ganze Land sehen. Der Tag war schön, wir hatten es uns so oft gesagt. 36

Von der Übung zurück mochte ich kaum vierzehn Tage wieder hier gewesen sein als 38 dann die Weihnachtsferien begannen, die ich ja ganz im Heimgarten verbrachte.11 Leneli’s Bräutigam12 der auch in Stuttgart ist, fuhr mit mir in den Heimgarten und blieb eine Woche dort. 40 Es war soweit ganz nett; Leneli hatte ja Verlobungsfeier. –– Es ist komisch allzu lange kann ich nie im Heimgarten sein. Ich verlier die gute Stimmung. Nun die Einseitigkeit mag wohl auch viel dazu beitragen.13 Ich möchte das auch nur Dir sagen, Du wirst das verstehen. 42 Ich sprach ja auch schon bei Euch darüber. Es ist ja wohl oft seltsam um das gegenseitige Verstehen, dort wo es ist, braucht man es sich nie zu sagen und doch ist’s immer da. │ ––– Ich möchte jetzt für eine 45 Stunde bei dir in Beienrode in Deinem so netten Zimmer sein,14 dann möcht ich Dir gern weiter davon sprechen. Es gibt oft so viel über das man gerne mal spricht aber auf Kommando geht das eben nicht und der Augenblick muß dazu passen. ––

48 Wenn ich nicht’s [sic] hab hören lassen so mußt ich doch oft, so oft an Weferlingen15 denken und ich freue mich so, daß ich in den letzten Sommerferien gerade bei Euch und nicht 50 irgendwo anders war. Deine Mutter war/so16 gut zu mir und mir war’s ja auch wie in einem Zuhause. Und dann unser Besuch in Beienrode. Einmal werd ich doch wieder hin kommen es 52 handelt sich nur um früher oder später. Ich mache mein Schluß-Examen allerdings erst im Sommer Juli-Anfang August. Und wenn ich dann die ganzen Examensgeschichten hinter mir habe dann würde man wohl auch die Ferientage die man sich dann noch geben kann, am 55 vollsten genießen. Und wenn ich komme, dann möchte ich auch ganz dort sein und nicht die Stunden abzählen müßen. Aber jetzt könnte ich mich eben nicht so hingeben. Ich muß die wenigen Monate die ich vom Frühling bis zum Examen noch habe etwas ausnutzen, da ich dieses Semester ║3║ eigentlich bald die halbe Zeit nicht da war. Und wenn man dann so kurz vor dem Schluß steht hat man doch keine richtige Ruhe bis alles vorüber ist und man läßt sich dann zwischen hinein auch nicht so gerne mehr ablenken.

Dieses Semester mache ich nur ein Examen in einem freiwilligen Fach: 62 „Forstwirtschaft“. Das gibt nicht viel Arbeit. Anfang März wird Schluß sein. Ich fahre dann 63 nach Ulm wo ich einige Zeit beim Zahnarzt zu tun habe17 und dann wird’s noch reichen um kurz nach dem Heimgarten zu fahren bei welcher Gelegenheit ich verschiedene Sachen die Erika18 65 nicht über die Grenze brachte hinüber bringen soll. Versuchen!

Ich traf Erika als sie im Jan{u}ar nach Stuttgart kam, besorgte ihr ein Zimmer und sie war zwei Tage Samstag und Sonntag hier. Es wären [sic] ganze [sic] nette Stunden. Ich brachte sie in eine mir sehr gut bekannte Familie in Stuttgart wo dann auch Erika ganz auf ihre Rechnung kam. Nachdem sie von hier aus noch wenige Tage in Möttlingen19 war, ging’s für sie wieder nach dem Heimgarten. Tante Maria20 schrieb mir letzter[?] Tage daß Erika Gehilfin in einer Taubstummenanstalt sei;21 sie hat Jungens[?] zur Aufsicht und Überwachung. │ Es ist das 72 Gute bei Erika daß ihr immerhin fester Glauben wenigstens nicht in Frömmelei ausartet. Wirklich gläubige Menschen sind für sich glücklich. Das ist sicher ein großer Vorzug. Aber ich kann nun einmal nicht gläubig sein im Sinne der Bibel. Aber das haben auch garnicht alle Menschen nötig. Denn im wirklichen Glauben suchen viele Menschen einen inneren Halt, solche22 die einen Halt den man ja braucht auf andere Weise nicht finden können. Wenn sie nur glücklich sind für sich, das ist die Hauptsache.

Mein Halt basiert {auf} praktischen Lebensgrundsätzen, denn nicht was nachher mit mir passiert ist das Wesentliche, sondern die Art und Weise wie man so lange man lebt auf dieser Welt fertig wird. Ich habe hierbei allerdings zu sehr an die Gläubigen gedacht deren23 Sehnen nur nach dem unbekannten Jenseits geht und die andern Gläubigen ertragen auch Mühsalen [sic] eben durch den Glauben an etwas nachherig Besseres leichter.

Man soll das Leben leben d.h. alles Gute Schöne und Nützliche was uns während des Lebens geboten wird, zu seinem eigensten Nutzen verwenden.

Vielleicht kommen wir mal hierauf zu sprechen, das geht immer besser als schreiben.

║4║ Du frägst unter anderm, oder ob ich nicht gerne kommen würde.

87 Ich kann Dir nur sagen daß ich sehr, sehr gerne komme, nein, daß ich mich darauf freue bis ich wieder mal kommen kann. Daß ich’s doch so legen muß wie ich am meisten davon habe, das verstehst Du ja auch. Und das wird wohl nach dem Examen sein. – Es könnte sein daß ich 90 diesen Frühling nach Berlin fahre für kurze Zeit beruflich, das heißt für später,24 in diesem Falle würde ich natürlich auch nach Weferlingen dann schon kommen. Aber das ist sehr unwahrscheinlich und ich möcht’s auch lieber nicht machen, denn dann bin ich doch nur recht eilig.

Übrigens der böse Junge hat den Walzer noch nicht gelernt, hat überhaupt keinen 95 Schritt mehr getanzt. Aber da auf der Asse ja ein Boden ist wo man auch so was macht wie tanzen25 so wird26 sich der Junge wohl mit diesen dort üblichen Schritten mal befaßen müßen.

97 Eine [sic] Photo sollst Du auch bekommen, sie wird dann gelegentlich mal kommen; ich denke doch noch vorher wie der der drauf ist.

99 Leneli und Alwine27 geht’s gut, │ beide <sind> in Zürich und wollen noch als Hausfrauen zulernen. Na, auf daß sie auch mal gute Männer bekommen ich möchts ihnen wünschen. 101

102 Ich hab mit Freude gehört daß auch Eure Wohnung in Beienrode mit einer eigenen Kochmaschine bereichert worden ist.28 Es ist doch recht schön wenn man Menschen um sich hat die sich freuen einem eine Freude zu machen. Und da habt Ihr ja an Herrn Fohs29 einen guten Sorger. Und dies Bewußtsein trägt doch viel dazu bei einem den Aufenthalt angenehm zu gestalten und das zu Hause etwas weniger zu missen.

Ich habe heute wohl etwas mehr geschrieben als ich gewöhnlich schreibe. Ganz früher schrieb ich sehr {viel} aber ich mußte mir dann sagen daß es auch hier ein Zuviel gibt; nun ist’s dafür im letzten Jahr schon fast zu wenig geworden und ich schreibe seit einiger Zeit überhaupt nur noch sehr wenig. Aber von Zeit zu Zeit was voneinander30 zu hören ist eben doch schön und wenn auch die Pausen mal etwas länger werden. ––– Es ist gerade ein Viertel vor drei. Nimm nochmals Dank für Deinen lieben Brief der mich so sehr gefreut hat. Leb wohl für heute und laß Dich herzlich grüßen von

Deinem Friedel.

                                                                                       Anmerkungen

1 Falls die damaligen Hausnummern mit den heutigen übereinstimmen – was freilich nicht gesagt ist –, würde es sich bei dieser Adresse um die im Jahre 1837 vom Grafen Wilhelm von Taubenheim (1805-1894), Oberst-Stallmeister des Königs von Württemberg, im klassizistischen Stile erbaute Villa handeln, die 1889 und 1910-11 umgebaut und renoviert und 2010-11 im Auftrage der Landesärztekammer Baden-Württemberg saniert wurde. Heute steht das Gebäude unter Denkmalschutz und bildet zusammen mit vier weiteren, angrenzenden Häusern den Sitz der Bezirksärztekammer Nordwürttemberg. Vorderseite und Eingang von der abzweigenden Jahnstraße aus, die 1923 noch Bahnhofstraße hieß, da hier der erste (1931 abgerissene) Degerlocher Zahnradbahnhof lag, Halt der Stuttgarter Zahnrad- wie auch der sog. Filderbahn. Der Brieftext legt nahe, daß das Haus, sofern es denn das nämliche ist, nach dem Umbau 1910/11 als Studentenwohnheim fungierte.

2 Friedel Kürschner, der, wie aus dem weiteren hervorgeht (s. Z. 52ff.), zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes kurz vor Abschluß seines (u.a. forstwirtschaftlichen,s. Z. 62) Studiums stand, besuchte die im Schloß Hohenheim untergebrachte Universität (s. Briefe 8, Z. 40; 16, Z. 14), welche, 1818 gegründet, seit 1904 ‹Landwirtschaftliche Hochschule Hohenheim› hieß und seit Ende des Ersten Weltkriegs das Promotions- und Habilitationsrecht besaß. (Justament 1923 wurde hier Margarete von Wrangell als erste Frau in Deutschland habilitiert und zur Professorin für Pflanzenernährungslehre ordiniert.) An ihr konnte man neben Land- und Forstwirtschaft auch Mathematik, Physik, einige weitere naturwissenschaftliche und technische Fächer sowie Volkswirtschaft studieren. 1922 waren bereits mehr als eintausend Studenten inskribiert. Unter den zahlreichen dem Friedelschen Korrespondenz-Konvolut beigegebenen Photos und Postkarten findet sich auch eine kolorierte Ansicht von «Stuttgart – Schloß Hohenheim auf den Fildern», auf deren (undatierter, unfrankierter, ungestempelter und nicht adressierter) Rückseite mit Bleistift von Friedels Hand notiert ist: «Von Hohenheim und Stuttgart schicke ich nächstens noch einige Ansichten. Friedel.».

B3 Diese Karte wird im vorliegenden Brief nicht eigens erwähnt, doch könnte Friedel sie, vielleicht als ‘Anzahlung’ auf die gegen Ende des Briefes angekündigte Photo-Sendung (Z. 97f.), hier beigelegt haben. Wahrscheinlicher ist es jedoch, daß sie einem früheren, uns nicht erhaltenen Brief aus der Anfangszeit seines Studiums entstammt.

3 Anspielung auf Käthes Arbeit als Kontoristin (s. Einleitung sowie Brief 2/Anm. 4).

4 Zu Heimgarten s. Einl.

5 Thun, als ältester und bedeutendster Waffenplatz der Schweiz mit Kasernen, Übungsgeländen, Ausbildungszentren, Rüstungsbetrieben, der Eidgenössischen Pferde-Regieanstalt sowie seit 1921 einem großen Armee-Fuhrpark ausgestattet (vgl. Peter Küffer: Thun (Gemeinde), Kap. 3.3: Waffenplatz und eidgenössische Betriebe, in: HLS, Version vom 18.12.2013, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D541.php), ist auch Sitz der ersten militärischen Zentralschule der Schweiz, der 1819 gegründeten Eidgenössischen Central-Militärschule im Freyenhof. Ihr Besuch war für Angehörige der Schweizer Spezialtruppen, also auch für Friedel als Kavallerist und Guide (s. Brief 1), obligatorisch, für die der regulären Truppen freiwillig. Im späten 19. Jh. dauerte ein Kursus zwischen zwei und sechs Wochen und beinhaltete theoretische wie praktische Unterweisung: «In der Zentralschule I von 1892 entfielen von 289 Unterrichtsstunden 110 auf Taktik, 78 auf Reiten, Fechten und Übungsmärsche, der Rest auf Spezialgebiete» (Hans Senn: Militärische Schulen, Kap. 2: Zentralschulen und Generalstabskurse, in: HLS, Version vom 13.11.2012, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D24638.php). Daß Friedel Kürschner zur Teilnahme aufgefordert wurde, spricht ebenso wie schon sein 1917 berichteter Einsatz bei der Schweizer ‹Grenzbesetzung› dafür, daß er die schweizerische Staatsangehörigkeit besaß (s. Einl.; Brief 1/Anm. 2), was spätere Briefe indirekt bestätigen (Briefe 8, Z. 22f.; 9, Z. 28-30; 17, Z. 24ff.). – Zu der geschilderten Gebirgsübung vgl. a. die drei tentativ zu Brief 2 gestellten Aufnahmen Friedels aus dem Herbst 1922 (Brief 2/Anm. 2).

6 Wie wir aus Friedels allererster Karte vom 20. Februar 1917 an Käthe wissen, war er bereits während des Krieges beim Schweizer Militär gewesen.

7 Im Orig. statt Doppel-‘n’ ein ‘n’ mit Geminationsstrich.

8 Gemeint sind die Pferde oder Maultiere, die in der Kavallerie zum Einsatz kamen (vgl. Brief 1/Anm. 3f.). Häufig waren es Jura-Pferde des Freiberger Typs, der letzten autochthonen Schweizer Pferderasse (hierzu Wikipedia, s.v. ‹Freiberger (Pferd)›).

9 Hier folgt im Text ein nachträglich durchgestrichenes «war».

10 Die Asse ist ein südöstlich von Braunschweig und Wolfenbüttel sowie südwestlich von Königslutter und Beienrode gelegener, bewaldeter Höhenzug (knapp 9 km lang und 3 km breit, höchster Punkt: 234 m). Bei gutem Wetter gewährt er Ausblicke bis zum Elm und Harz. Heute überregional bekannt durch das ehemalige Salzbergwerk, in dem von 1967 bis 1978 die Endlagerung radioaktiver Abfälle erprobt wurde. – Friedels und Käthes gemeinsamer Gang auf die Asse fiel möglicherweise in die Zeit seines letzten Besuches bei Käthe in den Sommersemesterferien 1922; vgl. Z. 48ff.

11 Von dort sandte er auch seine Weihnachtsgrüße an Käthe (Brief 2).

12 Leneli war vermutlich eine Schwester (s. Brief o.D.), vielleicht aber auch eine Cousine Friedels – etwa eine Tochter seiner Tante Helene und seines Onkels Wilhelm (zu ihnen Einl.; s. a. im vorliegenden Brief Anm. 27). Im letztern Falle müßte sie nach 1901 geboren sein, da die Stammliste der Familie Utermöhlen (s. Einl.), in der Wilhelm nur handschriftlich nachgetragen worden ist, als seinen einzigen Nachkommen einen am 6.5.1901 geborenen und schon am 4.1.1902 wieder verstorbenen Sohn vermerkt. Wäre Leneli vor diesem Jungen geboren worden, hätte der Familienhistoriker, der den Nachtrag zu Wilhelm Utermöhlen vornahm, sie sicherlich aufgeführt. Ein Alter von ca. 20-22 Jahren würde durchaus zu einer Verlobung (Z. 40) und Lenelis Vorname gut zu einer Mutter namens Helene passen, doch die Grundfrage, ob Leneli zu dieser Familie gehört, muß offen bleiben. ■Bräutigam■

13 Dazu, worin die beklagte «Einseitigkeit» bestanden haben mag, lassen sich aus Friedels Briefen diverse Hinweise zusammentragen. So hat wohl die in diesem Brief (Z. 72ff.) thematisierte unterschiedliche Haltung zur Religion eine Rolle gespielt. Zieht man die Stelle in Brief 12, Z. 8f., hinzu, wo Friedel den Heimgartenern attestiert, es fehle ihnen «oft etwas» an Sonnigkeit und Lebensfreude, so ist man geneigt zu denken, daß aus seiner Sicht die Genossenschaft – wohl bedingt durch ihre Genese (s. Einl.) – einen allzu ‘überzeugungstäterischen’, glaubens- und prinzipienfesten, am Ende gar sektiererischen oder zumindest (s. a. Brief 14, Z. 16-19) einsiedlerisch-verschlossenen Menschenschlag hervorgebracht hatte. Noch weit deutlicher äußert Friedel sich in diesem Sinne in Brief 13, Z. 70. 116-123 («lebendiges Grab», «[z]u wenig Lebensfreude … verbunden mit einem ganz kleinlichen Spießbürgertum»). Möglich ist auch, daß Friedel, der mit seinem Vater und dessen zweiter Frau zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Heimgarten und überhaupt nicht mehr in der Schweiz, sondern in Ulm ansässig war (s. Brief 8; vgl. a. Brief 6, Z. 15f., sowie im vorliegenden Brief Z. 63), es als einseitig empfand, daß er in seine alte Heimat, in der noch Geschwister von ihm lebten (Brief 18, Z. 22f.), nurmehr als Gast kehrte und dort keine Gegenbesuche empfangen konnte (eine Empfindung, die sich noch beträchtlich verstärkt haben könnte, falls die Heimgartener ihm auch nach Ulm keine Gegenbesuche abstatteten). Denkbar ist weiters ein Zusammenhang mit der zweiten Ehe von Friedels Vater, die aus sei es moralischen, sei es eher persönlichen Gründen zu einer Entfremdung der Verwandten geführt haben könnte; –– oder aber Friedels eigene innere Bindung an Heimgarten und die Familie hatte durch den Weggang seiner Mutter nach Brasilien gelitten, wovon wir aus Brief 17, Z. 100-103, erfahren. Viele weitere Gründe sind vorstellbar, aber daß es jedenfalls Spannungen gegeben hat, klingt auch in den Briefen 10, Z. 79f., 14, Z. 16ff., und 18, Z. 22f., an. Zu bedenken ist ferner die Weitgereistheit und (wenigstens im Verhältnis zur Theosophie) Freigeistigkeit von Friedels Vater (s. Einl.), welche den Sohn praktisch oder zumindest idell geprägt und schon früh in eine gewisse Distanz zur Heimgartener Gemeinschaft gebracht haben mag.

14 In Beienrode, wo sie arbeitete (s. Brief 2/Anm. 4), bewohnte Käthe, eventuell mit jemand anderem zusammen (s.  Z. 102 mit Anm.), eine kleine Mietwohnung. Ihr Zimmer muß auf Friedel besonders tief gewirkt haben, erinnert er sich doch immer einmal wieder gerade daran und nennt es dann auch «lauschig» (Brief 5, Z. 11) oder «traulich» (Brief 10, Z. 3f.); vgl a. Brief 23, Z. 10.

15 In Weferlingen lebten zu dieser Zeit noch Käthes Mutter und, wie ein Brief von Käthe an ihre Schwester Lisa vom November 1923 belegt, ihre drei jüngeren Geschwister, die alle erst nach 1923 heirateten.

16 Ursprünglich «warso» in einem Wort, dann mittels Schrägstrichs Trennung herbeigeführt.

17 In Ulm, wo offenbar Friedels Vater mit seiner zweiten Frau lebte (s. Brief 8), hatte mutmaßlich auch Friedel vor Aufnahme seines Studiums in Stuttgart-Hohenheim gelebt, weshalb er dort und nicht in Stuttgart in zahnärztlicher Behandlung war.

18 Erika Utermöhlen (?.?.1882-?), als älteste Tochter von Friedels Onkel Karl und seiner Tante Maria (vgl. Anm. 20) eine seiner Cousinen; zugleich auch Cousine Käthes, deren Vater Hermann Utermöhlen ein Bruder Karls war (s. Einl.).

19 Das Dorf Möttlingen, ca. 40 km westlich von Stuttgart im Heckengäu gelegen und 1923 wohl nur unwesentlich mehr als 500 Seelen zählend, gehörte stets zum Landkreis (1923 noch: Oberamt) Calw in Baden-Württemberg; 1972 nach Bad Liebenzell eingemeindet. Anzunehmen ist angesichts des in Z. 72 erwähnten «feste[n] Glauben[s]» Erikas eine religiös oder allgemein weltanschaulich begründete Beziehung zu dem seit dem 17. Jh. stark, zeitweise sogar radikal pietistisch geprägten Ort, in dem u.a. der pietistische Pfarrer, Kirchenlieddichter und Gebetsheiler Johann Christoph Blumhardt (1805-1880), ein Freund Mörikes, wirkte und zu Erikas und Friedels Zeiten der altpietistische Prediger und Gebetsheiler Friedrich Stanger (1855-1934) praktizierte, in dessen 1909 von ihm dort gegründeten christlichen Erholungsheim ‹Rettungsarche› viele Leidende Leichterung suchten und in Bibellektüre, Gebet und Handauflegen wohl auch fanden. Von Möttlingen ging in der zweiten Hälfte des 19. Jh., als der Ort begann, ein Anziehungspunkt für Heil(ungs)suchende und Pilger zu werden, die sog. Möttlinger Gemeinschaft oder Möttlinger Bewegung von Gläubigen aus, a. ‹Möttlinger Bund› genannt. Sie wurde im Dritten Reich als Sekte verboten, die ‹Rettungsarche› geschlossen. Das Heim öffnete aber bald nach dem Krieg wieder seine Pforten und besteht nach mehreren Erweiterungen bis heute. Auch die weit über Möttlingen hinausreichende Glaubensbewegung besteht nach wie vor: ‹Möttlinger Versammlungen› fanden und finden teilweise immer noch in Württemberg und Westfalen (! – s. Elberfelder Herkunft der Kürschners), der Schweiz (!), Holland und dem Elsaß statt. So mag es ältere persönliche Verbindungen zwischen den Heimgartenern und Möttlingen gegeben haben, aufgrund deren Erika zwecks Heilung, Seelenstärkung oder Freundschaftspflege in den Schwarzwald-Ort gereist ist. Ebenso käme der Besuch eines der Liebenzeller Heilbäder in Betracht – die reformerischen Utermöhlens scheinen einen Sinn für solche Kuren gehabt zu haben (s. Briefe 22, Z. 36; 24, Z. 50-52; Addendum 1, Z. 26 mit Anm.), zumal einer der ihren in Heimgarten selbst ein Erholungsheim betrieb (s. Addendum 2/Anm. 7). – Gleichfalls möglich, wiewohl weniger wahrscheinlich, ist an dieser Stelle eine Lesung «Müttlingen», welcher Name nun einerseits, zumindest in Quellen aus dem 19. Jh., ebenfalls für das schwäbische Möttlingen stehen kann, andererseits einen Weiler in der Schweizer (Sankt Gallener) Gemeinde Kirchberg bezeichnet. Friedels Übergang von der Erwähnung des Ortes zu einer Reflexion über den Glauben spricht aber stark für das deutsche Mö/üttlingen. Vgl. a. Brief 12/Anm. 3 zu der ‘schwäbischen Verbindung’ Käthe Utermöhlen – Hedwig Schwegelbaur – Ida Frohnmeyer und deren Weiterung wiederum zu den Schweizer Utermöhlens.

20 Friedel war der Sohn eines Bruders von Maria und ihrer Schwester Helene Kürschner (Einl.).

21 Mglw. in der im 19. Jh. gegründeten, seit 1915 in Zürich-Wollishofen residierenden Zürcher Kantonalen Blinden- und Taubstummenanstalt, in der schulpflichtige Kinder bis zur 8. Klasse unterrichtet wurden. 1928 wurde die Anstalt um ein freiwilliges 9. Schuljahr erweitert, 1933 kam ein Kindergarten hinzu; 1941 hob man die Blindenabteilung auf und ließ nurmehr die Taubstummenschule bestehen. Seit 1976 heißt das Institut ‹Kantonale Gehörlosenschule Zürich›, seit 2005 ‹Zentrum für Gehör und Sprache›, immer noch am selben Standort.

22 Ursprünglich «solchem» oder «solchen»; letzter Buchstabe dann gestrichen.

23 Ursprünglich entweder «die» oder «denen», dann überschrieben.

24 Siehe hierzu a. Briefe 6, Z. 6f. 13; 7, Z. 12. 15. Mehr als diese verstreuten Andeutungen zu seinen Zukunftsplänen, aus denen sich gerade so viel erraten läßt, daß er sich von Berlin aus um eine Ansiedelungs- oder Arbeitserlaubnis im «Ausland» bemühte – laut Brief 7, Z. 12, wartete er auf einen «Bescheid» von dort –, hat Friedel uns leider nicht hinterlassen.

25 Vermutlich in der Waldwirtschaft ‹Zur Asse› unterhalb der Asseburg-Ruine, die – als Reichsfeste Asseburg zwischen 1218 und 1223 entstanden, seinerzeit größte Höhenburg Norddeutschlands, 1492 nach wechselvoller Geschichte, ohne je erobert worden zu sein, von ihren Verteidigern sellbst durch Brandstiftung aufgegeben und hernach verfallen – auf einem westlichen Höhenkamm der Asse liegt. Im großen Saal der 1834 an der Stelle des früheren Forsthauses errichteten Wirtschaft (heute ‹Waldhaus Zur Asse›, nach mehr als 150 Jahren Betrieb seit Anfang 2017 geschlossen und in Restauration befindlich, Wiedereröffnung für 2021 anvisiert) fanden schon seit Mitte des 19. Jh. Unterhaltungsmusiken, Volksfeste, Gesangsabende, Theateraufführungen und eben auch Tanzveranstaltungen statt.

26 Zuerst «wird’s», doch dann Streichung des End-s zugunsten der reflexiven Formulierung.

27 Der Name Alwine, auf den schon Friedels Großmutter, die Mutter seines Vaters und seiner Tanten Maria und Helene, hörte, verweist ebenso wie der Lenelis auf eine Verwandtschaft mit den Kürschners, so daß es sich um Friedels Schwestern oder Cousinen handeln mag (vgl. Anm. 12). Etwas merkwürdig liest sich der im nächsten Satz geäußerte Wunsch, die beiden jungen Mädchen möchten einmal gute Männer bekommen, denn zumindest den Bräutigam von Leneli kennt Friedel ja schon (s. Z. 38-40) und sollte sich von dessen Qualitäten bereits ein Urteil gebildet haben können. Oder sollte es sich um zwei verschiedene Lenelis handeln? Etwa hier um Zwillinge oder im Alter benachbarte Schwestern, Cousinen oder Freundinnen, und die frisch verlobte Leneli ist a parte?

28 Die Kochmaschine, auch unter dem Namen ‹Küchenhexe› oder ‹Sparherd› bekannt, war eine Mitte des 19. Jh. aufkommende, seit Ende des 19. Jh. und bis in die 1950er Jahre hinein in die Mietshäuser Einzug haltende Herdform: gußeisern, mit Fliesen oder Email verkleidet, die innenliegende Brennkammer mit Holz befeuert und das Ganze so konstruiert, daß auf der Herdplatte mehrere, durch ineinandergesetzte Herdringe in der Größe verstellbare Kochstellen bestanden, in die man die Töpfe und Kasserollen direkt über dem Feuer einhängen konnte. Auch über eine Backröhre, einen Wärmekasten für das Eßgeschirr, ein sog. Wasserschiff mit Hahn für Warmwasser und einen eigenen Heizofen verfügte die Kochmaschine. Typisch war die umlaufende Metallstange für Handtücher, derentwegen dieser Herd in Norddeutschland auch ‹Stangenofen› oder ‹Stangenherd› hieß. – Die Verwendung der 2. Pers. Plural in diesem Zusammenhang könnte darauf hindeuten, daß Käthe in Beienrode nicht alleine wohnte, ebensogut aber ein Pluralis familiaris sein, der ihre Familie als Eigentümerin oder Besitzerin der Wohnung meint.

29 Mglw. der Eigentümer oder Hausbesorger der Beienroder Wohnung. Lustigerweise existiert noch heute ein Dipl.-Ing. (Helmut A.) Fohs, der – allerdings nicht in Niedersachsen, sondern im rheinland-pfälzischen Deidesheim – ausgerechnet eine Firma für Heiztechnik betreibt, die auch «Wärmeerzeuger aus Stahl und Stahl emailliert» im Angebot hat (— im Nebenberuf amtet er als Honorarkonsul der Republik Togo). Sein Eintrag ist der erste und lange Zeit einzige, wenn man den Namen im Internet sucht.

30 Zuerst irrtümlich «woneinander», dann den ersten w-Haken getilgt.