Brief, hschr., schwarze Tinte auf vier einseitig beschriebenen (und auch nur einseitig linierten) Blättern des Formats 20,5×25 cm, die links oben den Briefkopf der ‹Compañía Sud-Americana de Vapores›1 (‹Süd­amerikanische Dampf­schiff­ahrts­ge­sell­schaft›) tragen und rechts oben das vorgedruckte Wort ‹Vapor› (‹Dampf­schiff›) nebst einer von Anführungszeichen eingefaßten gestrichelten Linie (“……”), auf welche der schreibende Passagier den Namen seines Schiffes setzen konnte. Friedel trägt hier (nur auf dem ersten Blatt) «Cachapoal» ein. Den linken Blattrand hat er durchgehend freigelassen. Kein Umschlag.

an Bord des „Cachapoal“, den 28. März 25.

Meine liebe Käthe!

Seit gestern schwimme ich mit dem chilenischen Dampfer „Cachapoal“2 die peruanische Küste hinunter ganz nach dem Süden des Landes, nach Arequipa, d.h. nach dessen Hafen Mollendo.3 Zehn Reisetage habe ich vor mir. Seit einigen Monaten schon stand ich mit einer Plantagengesellschaft in Verbindung und die Sache ist jetzt in’s Reine gekommen, indem ich angestellt wurde. Ich soll mich auf einer Baumwollplantage einarbeiten, Versuchsfelder anlegen und nach drei Monaten technischer Leiter der Pflanzung werden.4 Ich glaube, daß ich dort mich gut einleben werde.

10 In Chiclayo erhielt ich letzte Woche Deinen letzten Brief worin Du mir von einem Briefe von ║2║ Erika5 erzählte<s>t der sagt daß ich diesen Frühling schon nach dem Heimgarten zurück komme. Ich schrieb in den Heimgarten daß ich frühestens erst kommendes Frühjahr 13 kommen kann und werde. Dir schrieb ich wie ich glaube auch über die Gründe.6 Ich habe früher um 14 meine Studien in Hohenheim7 beenden zu können Geld von meiner Schwester8 bekommen und auch von anderer Seite bekam ich ohne mein Hinzutun eine kleinere Summe.9 15 Nun möchte ich doch nicht mit diesen Schulden wieder nach Europa zurück kehren, sondern als freier Mann und hier kann ich mir das alles in viel kürzerer Zeit10 abverdienen als in der Schweiz. 18 Wenn ich also noch ein Jahr d.h. bis nächstes Frühjahr da bleibe kann ich das alles abbezahlen; in der Schweiz ║3║ würde ich bei dem „großen“ Gehalt den11 ich für die ersten gemeinsamen Arbeitsjahre mit Onkel zusammen erhalte, mehrere Jahre dazu brauchen. Ist’s da nicht besser ich erledige das hier in viel kürzerer Zeit und bin dann nachher niemandem mehr was schuldig.

Aber die Heimgärtner sind von solch leicht verständlicher Sache schwer zu überzeugen, aber ich habe geschrieben daß es mir unmöglich ist vor nachstem [sic] Frühjahr zurück zu kommen und ich glaube ich werde es nie bereuen.

Ich selbst würde natürlich am liebsten mindestens etwa 3-4 Jahre und noch länger hier bleiben um mir etwas Geld zu verdienen, denn das könnte man hier, das ist ja auch der einzige Zweck ║4║ warum man Europa verlassen hat. 28 Aber so wie die Sachen jetzt stehen muß ich schon 29 nächstes Frühjahr auf alle Fälle zurück um im Heimgarten anzufangen.

Von Arequipa werde ich Dir wieder schreiben sobald ich meine neue Adresse genau kenne. Sonst gilt immer „Consulado Suizo, Lima“ das mir alles nachsendet.

Ja, Käthe es gäb <viel zu erzählen> und ich möchte so sehr viel mit Dir besprechen, aber das 33 Meiste muß ich wohl so lange sein lassen bis wir uns wiedersehen. Es dauert nur noch 1 Jahr. Am 1. April sind wir in Lima und dann noch weitere 5 Tage südwärts nach Mollendo-Arequi{pa}12

Viele herzliche Grüße an Dich und Deine lieben Angehörig{en}

Dein Friedel.

  Anmerkungen

1 Diese noch heute bestehende chilenische Reederei wurde bereits 1872 (als Fusion zweier älterer Dampfschiffahrtsgesellschaften) gegründet und hat ihren Sitz in Valparaíso. Bis zum Bau des Panama-Kanals (s. Brief 10/Anm. 12) befuhr sie lediglich die südamerikanische Westküste; danach erweiterte sie ihr Liniennetz sukzessive um die Häfen der Vereinigten Staaten, Europas, Asiens und zuletzt auch der südamerikanischen Ostküste. Ende 2014 fusionierte ihre Container-Sparte mit der Hapag Lloyd.

2 Cachapoal ist eine ca. 50-100 km südlich der Hauptstadt Santiago gelegene Region Chiles.

3 Arequipa, Hauptstadt der gleichnamigen ‹Región Arequipa›, ist das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Südperus sowie Sitz des Verfassungsgerichts. Die auf 2.335 m ü.M. errichtete Stadt wird von den nördlich gelegenen drei Vulkanen Misti, Chachani (a. Chanchani) und Picchu-Picchu optisch wie geologisch beherrscht (s. Brief 18/Anm. 6, Photos Nr. 2 und 3). Zum Klima vgl. Brief 22, Z. 15-17; zu Friedels Bekanntenkreis in der Stadt ebda., Z. 18f. 38ff.; zum Kulturleben Arequipas in den zwanziger Jahren s. Brief 22/Anm. 19. – Mollendo liegt ca. 85 km entfernt von Arequipa. Es ist nicht nur eine seit Inka-Zeiten wichtige, wiewohl nicht leicht anzusteuernde Hafenstadt (s. Brief 18/Anm. 6, Photos Nr. 4-7, bes. Nr. 5 mit Asterisk-Zusatz), deren wirtschaftliche Bedeutung justament in den 1920er/30er Jahren ihren Höhepunkt erreichte, sondern seit 1871 zudem Ausgangs- und Endpunkt der windungsreichen Süd- und Südost-Bahnlinie des Landes (Ferrocarril del Sur), die über Arequipa nach Cuzco, der Hauptstadt des Inka-Reiches, mit einer Abzweigung nach Machu Picchu, und damit auf einer Länge von 940 km bis in Höhen von 4.480 m ü.M. führt (s. dazu auch Friedels eindrucksvolle, Brief 23 beigelegte Zeichnung [23/Anm. 23]). Zu Friedels Zeiten zählte Mollendo, das auch für seine ausgedehnten weißen Sandstrände berühmt ist, kaum 7.000 Ansiedler. Arequipa, die zweitgrößte Stadt Perus nach Lima und heute Millionenstadt, hatte damals zwischen 45.000 und 50.000 Einwohner.

4 Es scheint sich hier um das Ergebnis einer weiteren (und bisher nicht erwähnten) unter den zahlreichen Sondierungen des allem Anschein nach unermüdlich und umsichtig Fäden spinnenden, Kontakte knüpfenden Friedel zu handeln, neben dem Lima-Plan (Brief 13, Z. 30), dem ausgehandelten Angebot der Bewirtschaftung einer Hacienda nahe Chiclayo (ebd., Z. 34ff.) und der zustande gekommenen, aber nur kurz ausgeübten Vermessungstätigkeit auf Pátapo (Brief 14, Z. 30ff.). – Ob der nächste uns überlieferte, von der Hacienda Pucchum bei Camaná abgesandte Brief dann wirklich von der hier ins Auge gefaßten Stellung berichtet oder ob erst neuerlich eingetretene Änderungen unseren Einwanderer auf jene Hacienda führten, wird nicht ganz klar: Einerseits läßt Friedel im Folgebrief keinen Zweifel daran, daß Pucchum weit mehr als eine reine Baumwollplantage ist, auch soll er die Leitung – und zwar nicht nur die technische, sondern die gesamte! –, anders als hier angekündigt, erst Ende des Jahres übernehmen (Brief 17, Z. 42ff. 32ff.). Außerdem liegt Camaná immerhin fast 180 km entfernt von Arequipa oder Mollendo, von welchen Orten Friedel sich im vorliegenden Brief (Z. 29. 33f.) wiederzumelden verspricht. Andererseits meint er aber in Brief 17, Z. 22, er habe Käthe schon von Pucchum und der Eigentümergesellschaft erzählt, was – sofern keine Post aus der Zwischenzeit verlorengegangen ist – dafür spräche, daß er sich hier bereits auf Pucchum bezieht.

5 Zu Erika Utermöhlen, einer Cousine Friedels wie auch Käthes, s. Brief 3, Z. 65ff. mit Anm.en.

6 In der Tat äußert Friedel sich darüber extensiv in den Briefen 13, bes. Z. 66ff., und 14, bes. Z. 19ff.

7 s. hierzu Brief 3.

8 Daß Friedel eine Schwester hat, spricht er hier zum ersten Male aus. Von den bisher erwähnten Personen kommen dafür rein theoretisch Leneli und Alwine (Brief 3, Z. 38-40. 99-101, je mit Anm.), aber auch «Titti genannt Frida» (Brief 4, Z. 24 mit Anm.) in Frage. Es ist auch nicht auszuschließen, daß Friedel mehrere Schwestern hatte (von Brüdern ganz zu schweigen) und das Possessivpronomen nicht absolut im Sinne von ‘einzige Schwester, die ich habe’ verwendet, sondern relativ mit der Bedeutung ‘einzige Schwester, die von allen als Leihgeberin überhaupt in Frage kommt (und die jeder, der unsere Verhältnisse kennt, mithin auch Käthe, ohne weiteres identifizieren kann)’. Und wirklich ist in Brief 18, Z. 22f., plötzlich die Rede von «meinen Geschwistern». Ob es sich dabei nun um eine Schwester und einen oder mehrere Brüder oder eben auch mehrere Schwestern handelte – in jedem Falle wird die Geldgeberin wohl eine ältere Schwester gewesen sein, die dank eigener Arbeit und/oder Heirat bereits über Mittel verfügte. Das spräche – immer vorausgesetzt, die Gemeinte wäre tatsächlich eine unserer drei Kandidatinnen – am ehesten für Leneli, die im Winter 1922/23 ihre Verlobung feierte (Brief 3, Z. 38-40), Friedel also auf seiner letzten Studiumsetappe eventuell mit ihrer Mitgift oder mit selbstverdientem Gelde aushelfen konnte, und am wenigsten für Titti, die im März 1923 erst konfirmiert wurde (Brief 4, ebda.). Von Alwine wissen wir nicht mehr, als daß sie im Winter 1923 zusammen mit (entweder der frisch verlobten oder einer anderen) Leneli auf eine Hausfrauenschule oder in eine Haushaltslehre ging (Brief 3, Z. 99f.). – Es berührt eigentümlich, daß der Abschied von den in Heimgarten zurückbleibenden Geschwistern – und damit eine zeitigere Erwähnung dieser Geschwister – in Friedels Berichte über die Auswanderung keinen Eingang fand.

9 Denkbar wäre, daß es sich bei diesem zweiten Gläubiger um jenen geheimnisvollen «Herr[n] aus dem Ausland» handelte, den Friedel vermutlich im Frühjahr 1923 in Berlin kennengelernt hatte und der bei der Verwirklichung seiner ins nie näher definierte «Ausland» zielenden Berufspläne eine gewisse Rolle spielte (s. Briefe 6, Z. 6f.; 7, Z. 12 mit Anm.; 3, Z. 90 mit Anm.): Dieser Mann könnte Friedel vorschußweise Geld für den Abschluß seines Studiums und zur Erlangung einer Arbeitserlaubnis geborgt haben. Jedenfalls scheint Friedel diesem ihm noch gar nicht lang Bekannten gegenüber eine gewisse Verpflichtung gefühlt zu haben, wenn er schreibt, er habe zu seiner Hochzeitseinladung «nicht gut nein sagen» können und viel Zeit über den Vorbereitungen dieses Festes verbracht (Brief 6, Z. 8-12).

10 Folgt durchgestrichenes Wort oder Wortanfang («abfer»).

11 Sic. In der Bedeutung ‹Monatslohn› wird das Wort in Österreich und in der Schweiz a. im Maskulinum gebraucht.

12 Fehlender Punkt am Satzende sic.