Brief, hschr., schwarze Tinte auf zwei Seiten, die ein Blatt recht dicken Papiers einnehmen; Format wie Brief 3; kein Um­schlag. Mög­li­cherweise erst zusammen mit Brief 5 vom 28. April 1923 abgesandt (s. dort).

Stuttgart-Degerloch, Sonntag, 15. April 1923.

 Obere Weinsteige 8.

 Meine liebe Käthe!

Der erste Sonntag heute seit einiger Zeit an dem ich allein zu Hause bin. Draußen regnet’s in Strömen und ich hab sogar etwas eingeheizt. Es war solange Zeit das wunderbarste Wetter, dann darfs ja wohl auch einmal anders sein.

–– Und dann setzt man sich wohl gerne mal in eine bequeme Ecke, hört wohlig zu wie die Tropfen gegen die Scheiben schlagen – und denkt für einen Augenblick mal an garnichts. Oh, nein nicht an garnichts. Es tauchen dann vor einem,1 selber die eine{n} und andere{n} Erinnerungen auf und dann mag es einem oft so greifbar nahe erscheinen2 Es sind Bilder, aber liebe Bilder bei denen man verweilt. Das hat die Natur so gut eingerichtet daß sie uns die guten und schönen Empfindungen fester und markanter einprägen läßt, als das weniger Angenehme das niemandem erspart bleibt. Und das ist auch gut so, von diesem Plus sollen wir zehren und es soll uns helfen die Tage die nicht zu unseren Sonnentagen gehören, leichter zu überstehen. │ Und darum ist es so schön, wenn man sich immer wieder freuen kann.

Dein letzter Brief hat mich nicht nur gefreut, sondern er hat mir gut getan. Es ist so schön, wenn uns etwas wirklich gut tut. Ich hab Deine Art so gern. 18

3 Und daran hab ich heut denken müßen4 Ich hätte bei Dir sein mögen den Abend als Du den 19 letzten Brief an mich schriebst. Bei Dir ist’s so schön gewesen, aber auch so kurz. Ich möchte wieder einmal dort sein, aber länger als das letzte Mal und nicht auf die Zeit sehen müßen. 20

Es war gegen Ende des Wintersemesters als ich Deinen Brief erhielt.5 Einige Tage darauf reiste ich ab. Zuerst bei Bekannten auf der Schwäbischen Alb in Pfullingen nicht weit vom [sic] Lichtenstein6, dann eine Woche in Ulm und für kurze Zeit auch im Heimgarten7 wo 24 Titti genannt Frida confirmiert wurde8. Seit vierzehn Tage [sic] bin ich wieder in Deutschland.

Ich habe Dir zwei Bilder beigelegt, aber ich bin’s auf keinem von beiden das wirst Du auch sehen.9 Vielleicht gibt’s mal ein besseres.

10Ich möchte hoffen, daß es Dir gut geht, das wünscht Dir

Dein Friedel.

Anmerkungen

1 Komma sic.

2 Fehlender Punkt sic.

3 Fehlender Absatzeinzug sic.

4 Fehlender Punkt sic.

5 Das Wintersemester endete für Friedel laut Brief 3, Z. 62, Anfang März; Käthe hatte ihm also sehr bald auf seine Zeilen von Mitte Februar geantwortet.

6 Vielleicht denkt Friedel hier an die auch ‹Alter Lichtenstein› genannte Ruine der aus dem späten 12. Jh. stammenden Burg Alt-Lichtenstein bei Lichtenstein am sog. Albtrauf, dem norwestlichen Steilabfall der mittleren Schwäbischen Alb, und verwendet deshalb das Maskulinum («vom»). Wahrscheinlicher aber handelt es sich entweder um einen Verschreiber, und es ist einfach die Gemeinde Lichtenstein gemeint (die sich schon wegen ihrer größeren Nähe zu Pfullingen eher als Orientierungspunkt anbietet als die weiter südöstlich gelegene Burgruine) oder aber um eine analoge Konstruktion wie bei «Heimgarten», welchen Ort Friedel wegen seines männlichen Kopfgliedes (‘Garten’) grammatikalisch ebenso maskulin zu verwenden pflegt (er war stets «im Heimgarten», nicht «in Heimgarten») wie hier «Lichtenstein» mit gleichfalls männlichem Kopf (‘Stein’). Dies entsprach offenbar einer regionalen Gepflogenheit, hält es doch das Bülacher Neujahrsbl. 1993 (Einl./Anm. 9) nicht anders. – Lichtenstein wie Pfullingen liegen im Landkreis Reutlingen.

7 Vgl. die Ankündigung der Ulm-Heimgarten-Tour in Brief 3, Z. 62ff. mit Anm.

8 Schwer zu entscheiden, ob Friedels Cousine Frieda (so Schreibung lt. Stammliste [s. Einl.]), die jüngere Tochter seines Onkels Karl Utermöhlen, hier gemeint ist, da wir deren Geburtsdatum nicht kennen. Es ist jedoch wenig wahrscheinlich, denn wenn wir von dem in der Schweiz üblichen Konfirmationsalter von 15-16 Jahren ausgehen, müßte diese Frieda 1907/08 zur Welt gekommen sein – volle fünfundzwanzig Jahre nach ihrer 1882 geborenen, anscheinend einzigen Schwester Erika also und zu einer Zeit, da ihr Vater, Jahrgang 1861, die Mitte vierzig bereits überschritten hatte (das Geburtsjahr ihrer Mutter ist uns leider unbekannt). Nun suggeriert zwar die wie eine Umkehrung anmutende Formulierung «Titti genannt Frida», daß ‹Frida› gar nicht der richtige, sondern nur ein Nenn- oder Spitzname der Konfirmandin war, doch da ‹Titti› seinerseits als richtiger Name kaum in Betracht kommt, mag diese Umkehrung, wo nicht auf einem Versehen, auf humoristischer Absicht beruhen und trägt jedenfalls nichts zur Identitätsklärung bei. ■Eventuell eine jüngere Schwester Friedels? Stimmig ist indes die Jahreszeit, indem die Konfirmationsfeiern seinerzeit in vielen Schweizer Kantonen am Palmsonntag stattfanden: Palmarum fiel 1923 auf den 25. März, was sich auch mit Friedels Angaben zu seiner Rückkehr nach Deutschland verträgt.

9 Welche beiden Bilder Friedel da mitgeschickt hat, bleibt ungeklärt: Dem auf uns gekommenen Brief liegt keines bei. Aus der Umschreibung im Text ergibt sich, daß es sich um Aufnahmen von Personen gehandelt haben muß, denn Landschafts- oder Tieraufnahmen würde man nicht mit den Worten einführen: «ich bin’s auf keinem von beiden». In der mit dem Korrespondenz-Konvolut überlieferten Photosammlung findet sich aus der vor-peruanischen Periode überhaupt nur eine einzige Aufnahme eines jungen Mannes, der höchstwahrscheinlich nicht Friedel Kürschner war. Sie lag bei einem Brief, den Wilhelm und Helene Utermöhlen, Friedels Onkel und Tante, am 10. Dezember 1935 an Käthes jüngere Schwester Lisa und deren Mann Fritz Barnstorf richteten (s. Addendum 2/Anm. 1). Womöglich gehört sie gar nicht dorthin, zumal jener Brief auch nicht darauf referiert, sondern ist zu dem vorliegenden Brief zu stellen. Wenn dem so sein sollte, schwände allerdings die Wahrscheinlichkeit dafür, daß der auf jenem Photo Abgebildete, wie von unbekannter Hand auf der Rückseite fragend erwogen, «Karl U.[termöhlen]?» ist; denn den hätte Friedel seiner Cousine sicher beiläufig als «Onkel Karl» annonciert. Für das zweite angekündigte Bild findet sich überhaupt kein Kandidat. Vielleicht schickte Friedel Aufnahmen von Kommilitonen oder Freunden. Etwas irritierend die Sequenz: «ich bin’s auf keinem von beiden […]. Vielleicht gibt’s mal ein besseres», da man den elliptischen Komparativ kaum anders ergänzen kann denn durch: «[…] ein besseres von mir als die beiden beiliegenden Bilder» – die damit entgegen der ersten Aussage eben doch Aufnahmen von Friedel selbst wären. – Falls, wie vermutet, dieser Brief zunächst liegenblieb und erst zwei Wochen später zusammen mit Brief 5 verschickt wurde, ist auch nicht auszuschließen, daß Friedel darüber vergaß, die Bilder beizulegen, oder von dieser Absicht Abstand nahm.

10 Fehlender Absatzeinzug sic.