Brief, hschr., schwarze Tinte auf sechs beidseitig beschriebenen Blättern recht dicken, festen und linierten Papiers 22×27,5 cm, also annähernd Quartformat. Rand freigelassen, kleiner Einriß in der oberen Falz des ersten Blattes, kein Umschlag.

1 Hacienda Pucchum, Camaná1

via Arequipa

Perú

den 19. August 1925.

Meine liebe2 gute Käthe!

6 Käthe, Du bist zu gut zu mir, weil ich’s wirklich nicht verdiene. Vier Briefe mit dem heutigen 7 hab ich nun schon von Dir und ich selbst hab Dir in dieser Zeit noch nicht einen gesandt. Trotzdem mir die Briefe die ich von Dir bekomme, das Liebste sind; wie oft habe ich sie schon durchgelesen. Du weißt garnicht wie gut es einem tut hier solche Briefe zu bekommen. Und bei all dem bin ich so undankbar. Schau, wenn Du nicht so unendlich gut zu mir wärst, dann hätte ich ja auch von Dir nicht soviel hören können. Wenn Du in Königslutter oder besser gesagt in Beienrode abends in die Nacht hinaus siehst, dann mag es Dir wie mir gehen │ wenn ich nachts einen Augenblick hinaus gehe und in den Glanz des südlichen Sternenhimmels schaue. Aber dann denke ich nicht den südlichen sondern den nördlichen Sternenhimmel3 über mir zu haben und all die vielen so schönen Stunden in Europa gehen an einem vorüber. Man kommt sich dann oft so arm vor, arm deßhalb weil man mit niemandem teilen kann, alles Schönes [sic] was ich 17 sehe oder genieße ist für mich ein Halbes, wenn ich es nur allein haben kann. Ich einen Tag nur in Beienrode, Du einen Tag nur hier, aber einen ganzen Tag mit der ganzen Nacht und jeden Augenblick ausgekostet. Wünsche — Träume. 19 Und auch der Traum mit dem nächsten Frühling 20 wird ein Traum bleiben, ║2║ denn ich werde nicht in den Heimgarten gehen, aus dem einfachen Grunde weil ich mich hier besser stelle, was die Existenz[?] anbelangt.4

22 Die Hacienda Pucchum, schrieb ich Dir wohl schon5 gehört den Etablissements Braillard S.A. 23 eines [sic] der ältesten Pariser Firmen die im Auslande so in Perú an allen bedeutenden Plätzen 24 Geschäftshauser [sic] haben, so in Lima, Arequipa, Mollendo, Cusco, Corire usw. Braillard ist ein Schweizerunternehmen [sic], das mit den Jahren aber zum größten Teil in französische Hände kam,6 die aber dem alten Grundsatze des Hauses treu geblieben sind und für ihre Hauptangestellten vorzugsweise Schweizer nehmen. So sind die Gerentes7 und Chefs der Etabl. Braillard in Peru, Hauptsitz Arequipa, alles Schweizer, so auch Herr Sahli, der Chef sämtlicher │ Häuser in Peru. Herr Sahli ist außer den Etabl. Braillard noch Mitaktionär von 30 Pucchum oder offiziell der: Sociedad Agricola y Ganadera de Pucchum Ltda.8und zugleich Präsident des Gesellschaftsrates.

32 Bis Ende des Jahres geht der bisherige General-Administrator fort, und die Gesellschaft hat mir diesen Posten übertragen und mir mit Weggang des jetzigen Administrators die Leitung der 34 Hacienda übertragen. Ich habe damit mir den Grund gelegt zu einer guten Existenz mit einem Wirkungskreis wie ich ihn mir besser nicht wünschen könnte.9 Ich habe deßhalb außerordentliche Freude an meiner Arbeit.

37 Pucchum liegt sehr schön, direkt am Meer und hat eine Fläche von ca. 10-12000 Morgen, eine ║3║ ebene Fläche, dem Meer entlang, deren Ausdehnung man von den Gebäulichkeiten die im Hintergrunde etwas erhöht auf Hügelanfängen sich befinden, ganz übersehen 39 kann.10

Die kultivierbare Fläche ist11 20 km lang und 2½-3 km breit. Nur ein ganz kleiner Teil ist in Angriff genommen, jedes Jahr wächst aber diese Fläche bedeutend.

42 Du meinst nur Baumwollfelder, oh nein, dies[?] ist nur eines [sic] der Hauptkulturen, daneben Reis, Zuckerrohr, Orangenplantagen, Viehzucht, Pferde- Maultier- Eselzucht. Alles wartet nur darauf vergrößert und verbessert zu werden und das ist das Schöne hier, daß ich dies alles einrichten und verbessern und ausbauen kann, wie ich es für am besten halte12 │ Auf dem13 Felde arbeiten wir mit Traktoren und mit Auto-Camion14 werden die Ernten eingefahren und alle möglichen Fuhren geleistet. In der Baumwollfabrik wird die vom Felde kommende Baumwolle verarbeitet und die fertigen Ballen nach dem15 Hafen geschafft um dann in Liverpool ihr Ziel zu finden.

Unser Betrieb ist vielseitig und deßhalb schön und interessant.

Hier gedeiht alles und alles ist vorhanden, Orangen, Zitronen, Bananen, Feigen, Trauben, sogar Äpfel, dann Pfirsiche, Aprikosen und all die vielen Früchte die nur im Süden vorkommen.

16Alle Arten Kartoffeln, Camote17, Yuca, alle Gemüse. Das Klima ist angenehm und zu heiß wird’s {nie.} ║4║ Im Wohnhaus der Hacienda in der „Casa Hacienda“ wohne ich mit dem jetzigen Administrator ganz allein; dessen Familie ist in Lima in dessen [sic] Nähe er sich dann niederlassen will.

Die weiteren Angestellten von uns abwärts, Büro18 und Feldangestellte wohnen in ihren bezüglichen[?]19 Häusern. Da ich wenn ich in einigen Monaten die Leitung der Hacienda übernehme genau wie der bisherige Administrator viel20 Geschäfte habe, so habe ich mit Einverständniß des Gesellschaftsrates nach Deutschland21 einem Hohenheimer Studien Kolleg{en,} meinem besten Freunde geschrieben, ob er Lust habe hierher zu kommen als meine rechte Hand.22

Dann bin ich nicht mehr allein und man hat jemand mit dem man │ <sich> versteht, mit gleichem23 Denken und Fühlen. Mit der Zeit sollen auch die andern Feldangestellten, Oberaufseher usw. resp. Unterbeamte so wie auch Kassierer durch Schweizer oder Deutsche ersetzt werden. So wird dann im Laufe24 weniger Jahre der Aufenthalt auch etwas angenehmer, geselliger.

An Gesellschaft fehlt es ja nicht. Von Zeit zu Zeit fahre ich nach Arequipa um etwas Stadt zu genießen, ich habe viele, angenehme Bekannte dort. Dort wohnen verschiedene Schweizer, verheiratet und unverheiratet alle in guten Stellungen und wirklich nette Leute. Aber es gibt Zeiten in denen man viele Monate nicht von der Hacienda wegkommt wie jetzt die Hochsaison der Arbeit, Baumwollernte, Bearbeitung der Ländereien zur Reissaat, dann direkt ║5║ nach der Baumwollernte, Feldbestellung und Saat der Baumwollfelder, fällt mit Reissaat zusammen.

Juni bis März sind Monate mit viel Arbeit. Eigentlich das ganze Jahr, denn hier gibts keinen Winter und es geht immer weiter. Wir haben dieses Jahr viel neue Ländereien in Angriff genommen und das braucht viel Zeit zur Bearbeitung.

Pucchum ist ein idyllischer Platz25 für die Jagd. Das Meer bildet an verschiedenen Stellen lange in Land [sic] greifender [sic] Arme die flache große Lagunen bilden oft dicht mit schilfartigen Pflanzen bewachsen, ein Tummelplatz aller Art Enten, Waßerhühner, Reiher,26 Flamingos, dann in den Pampas Füchse und auf den Lomas, den Hügeln oder Berganfängen die großen peruanischen Kondore │ eine gefährliche Gesellschäft [sic], die ganze Kälber fortschleppen und selbst vor dem Menschen nicht zurückschrecken.

Da müßen unsere Vaqueros (Vaca = Kuh) oder wie man in den U.S.A. sagen würde Cowboys, sehr auf der Hut sein.

Die Flußmündung mit ihren vielen verzweigten Armen, große Inseln bildend mit Wald bewachsen bieten dem Jagdlustigen einen kurzweiligen Aufenthalt. Schlangen gibts hier {keine,} keine oder sozusagen sehr selten, das ist sehr angenehm.

Später kann ich Dir einige kleine Aufnahmen von hier senden, die Platten sind in Arequipa schon.27 Ich werde mir auch einen Apparat kommen lassen, dann nimmt man eher die sich ergebenden Gelegenheiten wahr.

║6║28 Viel Freude hast Du mir gemacht mit dem Bildchen. Hoffentlich kann ich Dir auch bald 92 mal sowas senden. Du meinst wohl ich wüßte nicht wo es aufgenommen ist, dann müßte ich Eure Veranda und den Blumengarten davor nicht kennen. Ich kenn [sic] ihn aber sehr gut und habe alles so klar vor mir als wäre ich erst eben von Weferlingen fort.

Ja es war eine kurze, aber schöne Zeit, bei Euch in Weferlingen, zu kurz um genießen zu können; mein Wunsch Dich immer einmal in Beienrode zu besuchen ist eben Traum geblieben. Jetzt wird’s manche Jahre gehen[? geben?].

Wenn ich gesund bleibe und hier alles gut geht, hoffe ich in fünf Jahren ungefähr eine Europareise zu machen. Aber da liegt noch soviel Zeit dazwischen, wer weiß was sie bringt.

100 Meiner Mutter, die nun │ schon über 10 Jahre von uns getrennt ist, habe ich nach Brasilien geschrieben sie solle nach hier kommen, damit wir wenigstens uns näher sind.29 Sie kann in 102 Arequipa wohnen, wo ich von Zeit zu Zeit auf Besuch weilen kann. Unsere Familie ist so sehr 103 zerißen [sic], aber das brachten all die Reisen und Verhältniße mit sich.

Ich schließe für heute, Käthe, fahre im nächsten Briefe nächste Woche fort.

Dein Friedel.

Anmerkungen

1 Pucchum war zu Friedels Zeit und schon im späten 19. Jh. eine der ausgedehntesten und wohlhabendsten Hazienden Südperus. (Zur Institution ‘Hacienda’ s. Brief 10/Anm. 18.) Wie andere große Hazienden der Küstenregion entlohnte sie ihre Arbeiter in selbstgeprägten Münzen, sog. fichas, die nur in den haciendaeigenen Läden akzeptiert wurden und damit die abhängig Beschäftigten an das Angebot und die (oft überhöhten) Preise dieser Läden band. Einige dieser Münzen aus Aluminium, die zwischen 1880 und 1960 kursierten, werden im Internet feilgeboten, wo man sie näher betrachten kann. Auf der Vorderseite tragen sie den Aufdruck: «Hacienda Pucchum Camaná», verso: «Vale por mercaderías Xc» («Gilt für Waren im Wert von X centavos»). – Der Bürgermeister der Küstenstadt Camaná, Hauptstadt des gleichnamigen Distriktes in der gleichnamigen Provinz des Departamento de Arequipa, war zu Friedels Zeiten ein gewisser Don Pedro J. Llosa (Amtsdauer August 1920 bis Dezember 1928), der Großvater des Schriftstellers und Nobelpreisträgers Mario Vargas Llosa.

2 Folgt evtl. kleines Komma.

3 Folgt durchgestrichenes Wort («vor» o.ä.).

4 Zu diesem Thema s. Briefe 13, Z. 52ff., bes. a. Z. 66ff.; 14, Z. 10-12. 16-29; 16, Z. 10-28; 18, Z. 19ff.; sowie wegen abweichender Begründung bes. a. Brief 24, Z. 16-24.

5 Fehlendes schließendes Komma sic. – Explizit hat Friedel die Hacienda Pucchum und ihre Eigentümer bisher noch nicht erwähnt; vgl. Brief 16/Anm. 4. Da der letzte uns vorliegende Brief immerhin fünf Monate zurückliegt, ist eine Lücke in der Überlieferung, in welche die Ersterwähnung fiele, nicht auszuschließen. Andererseits entschuldigt Friedel sich hier (Z. 7) bei Käthe für sein langes Schweigen und berichtet im folgenden so ausführlich über sein neues Arbeitsverhältnis, wie man es wohl kaum täte, wäre man wirklich überzeugt davon, dies alles schon einmal gesagt zu haben.

6 Friedels Darstellung ist sehr akkurat. Die Établissements Braillard S.A. wurden am 17. Oktober 1821 von der Genfer Kaufmannsfamilie Braillard als Import-Export-Firma in Arequipa gegründet, bestehen – unter dem Namen Braillard S.A. Perú – bis heute und sind damit tatsächlich eine der ältesten Firmen des Landes. Mehr als hundert Jahre lang lag die Unternehmensleitung in den Händen der Familie, deren Mitglieder allerdings im weiteren Verlaufe ihres Lebens nach Europa, meist Paris, überzusiedeln pflegten – auch diejenigen, die bereits in Peru zur Welt gekommen waren –, so daß der Besitz in der Tat allmählich in französische Hände kam. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg waren es lange Zeit Schweizer und Franzosen, die dem peruanischen Geschäft vorstanden. Inzwischen handelt es sich um einen Mischkonzern, dessen Schwerpunkt auf der Autobranche liegt (Exklusiv-Vertretung von Peugeot, Ersatzteile und Werkstätten), der aber auch technische Geräte und Werkzeuge aller Art verkauft sowie im Reinigungsgeschäft tätig ist. – Ob die Firma je Zweigstellen über Peru und Frankreich hinaus unterhielt, wie es in Z. 23 («im Auslande so in Perú an allen bedeutenden Plätzen») anklingt, war nicht zu klären.

7 span. für ‹Geschäftsführer›.

8 ‹Land- und viehwirtschaftliche Gesellschaft Pucchum mbH›. Span. Schreibung recte ‹agrícola› mit Akzent.

9 Abschließender Punkt fast unsichtbar.

10 Eine Illustration dieser trefflichen Beschreibung liefern die mit dem Folgebrief versandten Aufnahmen: Brief 18/Anm. 7.

11 Folgt durchgestrichen kurzes Wort oder Buchstabe.

12 Fehlender Satzpunkt sic.

13 Auch als ‘den’ lesbar.

14 Lastwagen.

15 Auch als ‘den’ lesbar.

16 Einzug sic.

17 ‹Camote› (> náhuatl ‹camotl›) bezeichnet in Teilen Süd- und Mittelamerikas die Süßkartoffel oder Batate (Ipomoea batatas).

18 Fehlender Divis sic.

19 Falls die Lesung stimmt, bedeutet das Wort hier in süddt. Verwendung soviel wie ‹jeweilig(en)›.

20 Folgt nachträglich durchgestrichenes, mit ‘G’ beginnendes und mit ‘f’ endendes Wort, wohl verschriebener Ansatz zum anschließenden «Geschäfte».

21 Folgt durchgestrichen ein Wort oder Wortanfang.

22 Ob aus dieser Idee etwas wurde, erfahren wir aus den Folgebriefen leider nicht, obwohl Friedel immerhin noch bis mindestens März 1928, evtl. sogar bis ins Jahr 1929 hinein, in Pucchum geblieben ist (vgl. Briefe 20, Z. 19-22 mit Anm.; 21, Z. 14).

23 Das Wort mit einem sehr groß geschriebenen, dennoch deutlich minuskelhaften ‘g’ geschrieben.

24 Folgt Strichlein, das wie kurzes Komma aussieht.

25 Schwer lesbar; könnte auch – und ebenso stimmig – «Hof» heißen.

26 Folgt durchgestrichenes (wohl weil in den ersten beiden Buchstaben etwas verunglücktes) «Flamingos».

27 Dieses Versprechen erfüllt Friedel bereits in seinem nächsten Briefe vom Dezember desselben Jahres: Brief 18/Anm. 7.

28 Ab hier zeigt sich die zuvor im ganzen Brief sehr ausladende und bisweilen schwer entzifferbare Schrift schmaler, gebändigter und damit besser lesbar, obgleich ein paar zweifelhafte Stellen bleiben. Offenbar hat Vf. nach Abschluß des langen Berichts über seine neue Situation in Peru vor diesem sechsten und letzten Briefblatt freiwillig oder unfreiwillig eine Schreibpause eingelegt, ein Eindruck, den neben der ruhigeren Hand auch der Themenwechsel erweckt.

29 Nicht minder unvermittelt als die Einführung einer Schwester in Brief 16, Z. 14, erfolgt nun der Hinweis auf die Mutter, die also – entgegen der Befürchtung, die man aufgrund ihrer bisherigen Nicht-Erwähnung hegen mußte – zu diesem Zeitpunkt noch lebt, und sogar auf demselben Kontinent lebt, auf den es Friedel, seinen Vater und dessen zweite Frau gezogen hatte, in einem Nachbarstaat. Daß dies nicht früher schon in einschlägigem Zusammenhange, etwa bei Schilderung der Auswanderungspläne, der Ankunft in Peru oder beim Tode des Vaters, berührt wird, muß man inzwischen wohl als für Friedel (bzw. für das wohl nicht nur räumlich «[Z]erißen[e]» [Z. 103] seiner Familienverhältnisse) bezeichnend erkennen. – Zur gewünschten Übersiedelung der Mutter ist es nach jahrelangem Hin und Her, über das wir nur spärliche Nachrichten erhalten, am Ende wohl nicht gekommen (s. Briefe 18, Z. 20f.; 19, Z. 30. 39f.; Brief o.D.; ■■■■).