Brief, hschr., schwarze Tinte auf zwei Seiten, die ein Blatt recht dicken Papiers einnehmen; linke Mittel­falz leicht eingerissen; Format wie Brief 3; kein Um­­schlag.

Degerloch, 5. Juni 1923.

 Meine liebe Käthe!

Du hast in Deinem Beienrode1 jedenfalls schon mehr Ruhe gehabt wie ich hier in der letzten Zeit.

Es ist fast Schicksal daß bei mir gerade in diesem letzten Semester wo ich eigentlich nur ans 6 Arbeiten hätte denken sollen gerade immer soviel dazwischen kommt. Der Herr aus dem Ausland den ich damals in Berlin kennen lernte2 war einigemale da und ich bin manche Tage 8 fort gewesen damit3. Dann war seine große Hochzeit hier in Stuttgart zu der ich auch hin ging, ich konnte zu der Einladung nicht gut nein sagen und es war auch sehr schön. Einige Wochen vorher kamen wir in dem Hause Verwandter von deren Familien oft zusammen und haben viel eingeübt für die Hochzeit,4 kleine nette Lustspiele usw. So kam man ständig nach Mitternacht in’s Bett. 12

 13 Dann nachher war ich wegen Stellung für später einigemale verreist5 und die Zeit ging rum man sah es blos immer am │ Abreißkalender wie die Zeit rum ging. – In den letzten drei 15 Wochen war ich sehr oft in Tübingen, da liegt die zweite Frau meines Vaters und hat eine Operation hinter sich und {auf} solche Leute muß die ganze Krankenhausumgebung doch furchtbar drücken wenn nicht von Zeit zu Zeit jemand kommt.6

 Käthe, das alles soll keine Entschuldigung sein, ich sage Dir damit blos kurz was ich in der Zeit getrieben habe, d.h. von treiben kann man da eigentlich nicht mehr sprechen. – Und das Briefeschreiben ist dadurch ziemlich liegen geblieben. Nun ist in sechs Wochen das Examen und ich darf mich nun ganz gehörig auf meine Hosen setzen.

 Daß mich Deine beiden letzten Briefe dennoch freuten darf ich Dir doch sagen. Und heute kam Deine Karte mit Dir darauf. Die Schicksalsblume7 unter dem Kastanienbaum hat gut für mich gesprochen und ein gutes Wort bei Dir eingelegt für mich sonst hätte ich Deine Karte nicht verdient. Jetzt kann ich Dich doch auch ab und zu mal sehen. Aber [?] ich hab Dich trotzdem so genau vor mir. – Ich werde auch in den nächsten Wochen kein guter Briefschreiber sein. Solange muß ich8 schön „bös“ sein. Vielleicht darf ich etwas davon mal wieder gut machen. Dir kann ich nun nicht sagen „böse Käthe“. Bei allem Suchen nichts zu finden, dann mußt Du Dir schon sagen lassen daß Du gut bist von Deinem Friedel.

 Anmerkungen

1 Zu Käthes Arbeitsort Beienrode s. Briefe 2/Anm. 4; 3/Anm.en 14.28.

2 Vermutlich im Frühjahr 1923, vgl. Briefe 3, Z. 90 mit Anm.; 7, Z. 12.

3 Gemeint ist wohl «mit ihm» (i.e. besagtem Herrn), d.h. ‹damit› wird – in einer (wie stets bei Personen als Bezugssubstantiven) befremdlich wirkenden Weise – als Pronominaladverb verwandt. Denkbar, wiewohl weniger wahrscheinlich, ist die Verwendung als Konjunktion zwecks Einleitung eines – dann vergessenen – Finalsatzes («… damit wir uns gemeinsam umtun könnten» o.ä.).

4 Komma sehr verblaßt, fast nicht mehr zu sehen.

5 Zuerst «verreiſt» mit langem ‘s’, dann die obere und untere Länge quer durchgestrichen und ein rundes ‘s’ gesetzt. – Allgemein zeigt die Schrift in diesem Brief allerlei Unregelmäßigkeiten und Unsauberkeiten, schwankenden Federdruck mit nachträglicher Verstärkung einzelner Buchstaben zu ihrer Verdeutlichung sowie manche Verschmierung, was insgesamt auf Eile und Fahrigkeit, vielleicht aufgrund der beschriebenen Belastung, schließen läßt. Auch der Stil, noch weniger elaboriert als sonst, legt diesen Schluß nahe.

6 Friedel hatte aus Stuttgart einen viel kürzeren und leichteren Weg nach Tübingen als der in Ulm lebende Vater.

7 Als ‹Schicksalsblume›, auch ‹Orakelblümlein› oder ‹Losbaum› (> κλη̃ροδένδρον Klêrodéndron ‘Losbaum, Los-Holz’) bezeichnet man verschiedene ‘Sternblumen’, d.h. Korbblütler mit strahlenförmig ausgebreiteten Zungenblüten wie z.B. Margeriten, Ringelblumen, Gänseblümchen oder Wegwarten, deren Blüten im Volksbrauchtum einzeln ausgerupft werden unter Aufsagen eines Fragesprüchleins: «Er liebt mich – liebt mich nicht – liebt mich – nicht – …» (Goethe, Faust I, Z. 3179ff.), «Er liebt mich von Herzen – mit Schmerzen – insgeheim – ganz allein – nur zum Schein – ein wenig – gar nicht» u.ä. Nicht nur die Neigung, auch der Beruf des künftigen Liebsten und eine Fülle weiterer ‘Futura contingentia’ läßt sich auf diese Weise in Erfahrung bringen, wofür es die unterschiedlichsten regionalen Abzählreime gibt. Nach ihrer Form wird die Schicksalsblume u.a. auch ‹Stern- oder Strahlblume› genannt, nach ihrer Blütezeit auch ‹Johannisblume, Sonnwendrose, Jakobsrösele›, nach ihrer Orakelfunktion auch ‹Wunderblume, Glücksblume, Liebdichvonherzen, Himmel-Höll-Fegfeuer, Edelmann-Bettelmann›; vgl. Kröners Wörterbuch der deutschen Volkskunde. Stuttgart 31974, s.v. ‹Margerite›; Marianne Reichert: Symbolik der Pflanzen. 1995, Frankfurt/Main 2004, s.v. ‹Margerite›; Friedrich Jantzen: Amors Pflanzenkunde. Pflanzen im Liebesbrauchtum. Stuttgart 1980, S. 30ff. – Anscheinend hatte Käthe in ihrem vorletzten Briefe halb scherz‑, halb ernsthaft gedroht, ein derartiges Blumenorakel nach dem Sinn einer Fortsetzung ihrer im Angesicht Friedelscher Schreib-Inkonstanz als einseitig empfundenen Korrespondenz zu befragen.

8 Seiten- (und ineins damit Blatt‑)Ende; Fortsetzung am linken Seitenrand.