Brief, hschr., schwarze Tinte auf sechs Seiten, die drei Blatt linierten Leinen-Briefpapiers desselben Formats wie Brief 3 einnehmen; die Feder sehr viel schmaler als in den ‘deutschen’ Briefen; kein Umschlag. Ein Paßbild als Beilage (s. Anm. 23).
Ständige Adresse: Consulado Suizo, Lima, Perú.1
Ocallí, Dept. Amazonas, den 8. Juni 1924.2
3 Meine liebe, gute Käthe! Wenn ich jetzt bei Dir sein könnte, bei Dir in Deinem so traulichen Zimmer von dem Du mir schon soviel Trautes geschrieben hast, dann würd ich Dich küssen Käthe, küssen weil Du zu mir so gut bist. Wieviel Liebes und Gutes hast Du mir geschrieben in Deinem letzten Brief und wieviel Freude hast Du mir gemacht; mehr als das, mit Deinem Briefe habe ich ein Stück {Heimat} bekommen. Warum mußten wir auch so rasch abreisen und nach Beienrode und nach Weferlingen konnt ich nicht mehr. 8 Als es mal hieß damals in Ulm, dann reisen wir,3 da dachte man überhaupt nur noch an die Reise und das Ziel dem man entgegen 10 gehen sollte. Die Zeit war ja auch ziemlich {kurz} und viel war zu schaffen. Wohl hab ich Deinen Brief damals in Ulm noch erhalten, aber unbeantwortet ging er mit mir auf die Reise. Und doch schickst Du mir wieder einen, aber diesmal trifft er mich erst weit hinter den Bergen.4 12 wo ganz andere Menschen wohnen. Ich hab’s wieder erfahren dürfen wie gut Du bist und ich war immer so undankbar. Vielleicht wird’s hier etwas besser. Du hast schon etwas recht, wenn 15 Du fragst5 in was für eine Wildnis wir uns verkriechen wollten wenn │ man von der letzten Bahnstation noch vierzehn Tage mit den Maultieren weiter in’s Innere geht.6
17 Am 23. November von Genua7 kamen wir nach wirklich interessanter Fahrt am 30. Dezember in Callao8 dem Hafen von Lima, an. Deßhalb weil wir an sovielen Häfen anlegten 19 und überall Zeit hatten an Land zu gehen, haben wir manch Schönes gesehen. Wir legten von 20 Genua ab an in: Marseille, Barcelona, Madeira, Teneriffa, Trinidad, Barbados,9 La Guayra [sic]10, – Curaçao, Puerto Columbia [sic] (Sabanilla)11, Puerto Limon (Costarica) [sic],12 Colon [sic], Panama, Manta, Guayaquil und Callao.13 22 Drei Wochen blieben wir in Lima und dann gings 23 drei Tage mit einem Küstendampfer nordwärts bis zu einem kleineren Hafen. Ein kurzes Stück Bahn brachte uns dann bis an das Vorgebirge der Cordilleren und von dort an sollte nun die Weiterreise auf Maultierrücken beginnen. Mit der Bahn hörte auch bald alles auf was etwas an Kultur erinnerte. Die ganze Reise über die sich in unendlich viele sich immer wieder teilende Bergzüge, zerfallende Cordillerenkette<n>, ging ohne allen Zwischenfall. Furchtbar wild sind diese Felsenkolosse und die Täler alle tiefeingefressen und oft fast senkrecht abfallend. So waren dann auch die Pfade; über steile Felswände hinunter, unten durchs Wasser, oder wenn eine Brücke da war die oft nur aus einem quer über das reißende Gewässer,14 gelegten ║2║ Baumstamm bestand, da wußte man nicht, sollte man oben im Sattel bleiben. Aber diesen Maultieren mit ihren zierlichen Hufen die sicherer traten als wir selbst konnte man sich ganz und gar anvertrauen. Es war staunenswert was die Tiere leisteten. In der ersten Hälfte der Landreise kamen wir bis Abend immer in eine Ortschaft, später hörten die <Siedlungen> auf und im Freien wurde kampiert. Erst als wir den Marañon wie der Amazonenstrom in seinem oberen Laufe heißt, überschritten hätten [sic], wurde es wieder etwas besiedelter. Oben auf den Pässen {über} die wir bis zu 3800 m ü.M. kamen, wehte oft ein frischer Wind, Schnee gibts hier in dieser Höhe noch keinen erst gegen 5000 m.
So kamen wir am 18. Februar (am 19. Januar von Lima) in Ocalli, dem Hauptörtchen des Jumetetales einem kleinen Nebenfluß des Marañon, an und quartierten uns hier in einem uns zur Verfügung gestellten Hause, einmal ein. Frau und Kinder15 gut versorgt zurück lassend gingen wir Männer nach einer Woche weiter noch in’s Innere über die Centralcordilleren hinüber bis 43 Chachapoyas, der Hauptstadt des Departements Amazonas.16 Wieder in Ocalli lernten wir dann in kleineren und größeren Excursionen unsere Umgebung kennen was vor der Ansiedlung ja auch nötig ist. Wochenweise waren wir oft unterwegs, denn bei diesen so gebirgigen Wegeverhältnissen legt man in einem Tage │ nicht soviel zurück. 46 Überall hier ist’s außerordentlich fruchtbar, alles gedeiht, unsere Gemüse, Kartoffeln, Getreidearten, daneben natürlich die tropischen Gewächse wie Bananen, Ananas, Zuckerrohr, Orangen, Citronen, Cacao, Cafe, Erdnüße und all die vielen andern. Cafe gedeiht hier ganz besonders gut, weil er hier seine besten Bedingungen findet. Das ganze Jahr fast gleiche Temperatur 18°-25° Celsius und einigemale etwas mehr; nie wirds aber so heiß wie bei uns {in Deutschld. u. Schweiz} im Sommer. Mit Cafe verdienen die Leute hier ihr meistes Geld, hier wächst eine der besten Cafesorten. Und eine Cafepflanzung uns anzulegen, das hatten wir hier auch im Sinn. Es wird aber jedenfalls nicht dazu kommen.
55 Meinem Vater ist hier eine gute Stelle in seinem Berufe angeboten <worden,> und sehr wahrscheinlich wird er die annehmen und später wenn es möglich ist vielleicht in irgend einer 57 passenden Stadt eine Art Handelsschule einrichten.17 Es wäre für meinen Vater auch viel besser so, denn in seinem Berufe leistet er entschieden das Meiste.
Ich selbst werde im Laufe der nächsten Monate eine Stelle auf eine [sic] der großen Hacienden18, wahrscheinlich näher an der Küste, antreten. Ich lerne dann auch die Verhältnisse an der Küste, die in der Kultur weiter vor ist und wo die großen Viehzucht-19 Zuckerrohr- und ║3║ Baumwoll-Hacienden sind, gut kennen und kann dann wenn ich später selbst etwas anfangen möchte besser beurteilen, wo es besser ist. Die nächste Zeit wird also eine Änderung bringen. Hier wo wir sind ist etwas zu machen, die Anfangsjahre sind ja schwer, aber nachher kann man dafür auch etwas verdienen. Nur furchtbar einsam ist’s hier; wenn einige Menschen oder Familien zusammen wohnen, die sich verstehen, dann ist’s erträglich, nur allein sollte man nicht sein. Man ist eben etwas abseits von der Welt hier, hinter den Bergen, hier kann man nichts kaufen, Läden gibt’s keine, alles was man braucht muß man sich mitbringen und auch alles 69 selbst schaffen. Darum ist’s mir, wo ich doch vorläufig allein bin, recht vorerst nach der Küste, wo etwas mehr Kultur ist, zu kommen. Mit der Zeit kommen vielleicht noch Bekannte oder Kollegen und bis dann sieht man auch was zu machen ist, ob an der Küste oder im Innern.
Du frägst was ich lese. Zur Zeit garnichts. Etwas zu lesen habe ich garnicht mitgenommen, ich dachte dazu würde man vorerst garnicht kommen. Es gibt aber doch immer ein Stündchen in dem man nichts zu tun hat oder auch mal nichts tun will und dann ist ein gutes Buch ein guter Kamerad. Vorerst kann ich mir nichts kommen lassen, aber │ sobald ich anfange etwas zu verdienen dann möcht ich mir doch auch dies und jenes kommen lassen und gerne werde ich {mich} dann an Dich wenden.
78 Bis Du diesen Brief bekommst, wirst Du vielleicht schon im Heimgarten sein. Wär das schön 79 wenn ich dann auch dort wär. Der Heimgarten ist schön, wenn nur die Menschen etwas anders wären.20 Wenn es Dir und Wilhelm21 während Eures Aufenthaltes reicht werdet Ihr doch sicher auch an den Vierwaldstättersee gehen, mit dem Dampfer vielleicht ein Stück fahren und auf den [sic] Rigi. Ich glaube Tante Helene22 hat früher dort auch schon einige schöne Touren gemacht. 83
Von unserer Reise in’s Innere hab ich leider gar keine Aufnahme, es wurden einige gemacht von einem Mitreisenden, aber die Platten kann er hier nicht entwickeln. Vielleicht bekomm ich später doch die eine oder andere. Anbei ein kleines Bild aus Lima; ich mußte dort einige Passbilder für Ausweise haben.23
88 Du läst [sic] Dich photographieren sagst Du, wenn Du für mich auch ein Bild hast, machst Du mir eine große Freude. Sobald ich was habe werd ich’s Dir auch schicken. Für Deine Reise nach der Schweiz begleiten Dich meine besten Wünsche. 90 Hoffentlich nimmst Du viel Schönes von dort mit. Viele herzliche Grüße Deiner lieben Mutter,24 Hans25 und Wilhelm. Sei Du besonders gegrüßt
von Deinem Friedel.
1 Photo.
1 Dies unmittelbar am oberen Seitenrand, möglicherweise nachträglich, angebracht.
2 Ocallí – diese Schreibung mit Akzent ist die korrekte, wenngleich der Verfasser im weiteren dazu übergeht, den Akzent wegzulassen – ist einer von 23 sog. Distrikten, welche die Provinz Luya bilden, die ihrerseits eine von sieben Provinzen der heutigen nordwestperuanischen ‹Región Amazonas› ist, die 1832 als ‹Departamento Amazonas› gegründet worden war und 1924 offensichtlich immer noch so hieß. Luya mit der Hauptstadt Lamud gilt sowohl unter landschaftlichen wie unter historisch-archäologischen Gesichtspunkten als ausgesprochen reizvoll.
3 s. Brief 8, Z. 10ff.
4 Punkt statt Komma sic.
5 Zuerst offenbar «sagst», dann Korrektur des ‘s’ in ein ‘r’ und Voranstellung eines ‘f’, dessen allzu schmal geratener Oberlänge nachträglich noch eine kleine Rundung verpaßt wurde, die freilich wiederum zu rund geraten ist und zu weit oben sitzt, so daß der Buchstabe jetzt wie ein ‘P’ mit Unterlänge aussieht.
6 Diese Formulierung wirkt etwas verwirrend angesichts des kurz zuvor (Z. 10-12) Gesagten, scheint sie doch darauf hinzudeuten, daß Käthe über Friedels Ankunft und erste Wege im neuen Land bereits unterrichtet war, daß es also zwischen Brief 9 und dem vorliegenden mindestens einen weiteren, uns nicht erhaltenen gegebenen haben muß. Im weiteren zeigt sich jedoch, daß dem nicht so war. Folglich ist hier der Konditionalsatz («wenn man von der letzten Bahnstation …») nicht als Teil von Käthes Frage zu verstehen, sondern als Teil von Friedels Begründung, weshalb die Frage nach der Wildnis berechtigt sei.
7 Laut Briefen 8, Z. 28, und 9, Z. 21, sollte der Dampfer einen Tag früher, am 22. November, von Genua abgehen. Angesichts der unzähligen damals in Genua ablegenden Personendampfer erscheint es aussichtslos, Namen und exaktes Abfahrtsdatum von Friedels Schiff zu eruieren. Die von ihm Z. 20-22 nachgezeichnete Reiseroute paßt aber zu derjenigen, die die Genueser Schiffahrtsgesellschaft ‹Transatlantica Italiana Società di Navigazione› für ihre im Zwei- bis Vier-Wochentakt befahrene Südamerika-Linie angab (s.u. Anm. 13).
8 Fehlendes Komma sic.
9 Geographisch würde die Reihenfolge ‹Barbados, Trinidad› mehr einleuchten, da Barbados nördlich von Trinidad und damit weiter vom südamerikanischen Festland entfernt liegt.
10 La Guaira bei Caracas, die sog. Pforte Venezuelas am Karibischen Meer, eine bedeutende Hafenstadt.
11 Puerto Colombia, der 1896 in Betrieb genommene neue Hafen der kolumbianischen Stadt Barranquilla, deren älterer Handelshafen Sabanilla für große Schiffe nicht tief genug und überdies ständig von Sedimentation bedroht war.
12 Offenbar hat Friedels Dampfer von Puerto Colombia aus am Panama-Kanal vorbei zunächst Kurs auf das nördlicher gelegene puertorikanische Puerto Limón genommen, bevor er wendete und die karibische Küste Panamas entlang in südöstlicher Richtung zurückfuhr bis zur Hafenstadt Colón, dem Eingang des (erst 1914 fertiggestellten und sogar erst 1920 für den Schiffsverkehr freigegebenen – Friedels Trajekt läßt sich also durchaus noch pionierhaft nennen) Panama-Kanals.
13 Die ‹Transatlantica Italiana Società di Navigazione› gab im Januar 1925 für ihre ‹Linea del Nord Brasile, Centro America e Sud Pacifico› ein nahezu identisches, nur etwas ausführlicheres Itinerar an, in dem allerdings der Schlenker nach Puerto Rico fehlt: «Partenze regolare mensili da Genova per: Marsiglia, Barcellona, Alicante, Malaga (ev[entualmente].), Cadice (ev.), Teneriffe, Parà, Trinitad [sic], La Guaira, Puerto Cabello, Curaçao, Puerto Colombia (Sabanilla), Cartagena, Cristobal (Colon), Balboa (Panama), Manta, Guayaquil, Payta [recte: Paita], Callao»; von Callao aus fuhr das Schiff die Küste noch weiter hinab mit Stationen im peruanischen Mollendo und in den chilenischen Orten Arica, Iquique, Antofagasta, schließlich Valparaíso. Die Schiffahrtsgesellschaft wirbt mit «Trattamento e Servizio di Lusso Tipo Grand Hôtel», also sozusagen Vier-Sterne-Bewirtung und ‑Aufwartung, auf den Dampfern ihrer Flotte (ganzseitige Anzeige der ‹Transatlantica Italiana› in: Rivista delle Comunicazioni Poste – Telegrafi – Telefoni (Fondata dal Ministerio delle Poste e dei Telegrafi) 18 (1. Januar 1925), Innenseite des Heftdeckels). Schon ein Jahr später ist in der ansonst identisch aufgemachten Anzeige von Luxus keine Rede mehr; jetzt verspricht man auf der nunmehr kurz und bündig so genannten «Linea celere» entsprechende «Servizi celeri» mit «Moderni adattamenti di 1a, 2a e 2a Classe Economica – Terza Classe in Cabina» (in: ebd. 21 (15. Dezember 1926), Innenseite Heftdeckel): Die moderne Massenmobilität hat Einzug gehalten. — Wie schade, daß Friedel es bei seiner Aufzählung bewenden läßt und nicht ein wenig mehr von dem gesehenen «Schöne[n]» (Z. 19) dieser einzigartigen Fahrt mitteilen mag! Die bloße Evokation muß genügen.
14 Komma sic; oben vor «Gewässer» und unten nach dem Komma jeweils zwei verschmierte Tintenstriche.
15 Hier wie in diesem ganzen Brief wird nicht klar, von wem Friedel spricht: Wer ist das Reise-«wir», nur Friedel, sein Vater und dessen Frau, oder noch weitere Ulmer Mitwanderer (vgl. Brief 8, Z. 15ff.); und um wessen Frau und Kinder handelt es sich? Daß es nicht Friedels sein können, glaubt man sowohl aus seiner Bemerkung Z. 69
, wonach er «doch vorläufig allein» sei, wie allgemein aus der Tatsache schließen zu dürfen, daß er bisher keinerlei eigene Familie erwähnte. In Brief 11, Z. 7f., findet sich mit Bezug auf Friedels Vater die Formulierung «seine Frau und Kinder» und damit ein Hinweis auf Kinder aus des Vaters zweiter Ehe, oder evtl. aus einer ersten Ehe seiner zweiten Frau, also auf Halb- oder Stiefgeschwister Friedels. Von ihnen dürfte mithin hier die Rede sein.
16 Chachapoyas wurde 1538 von einem General Francisco Pizarros gegründet und war ein Zentrum der spanischen Kolonialherren in Nordostperu, von dem aus sie ihre Expeditionen ins Amazonasgebiet begannen. Der Name stammt von einem indigenen Volk, das erst kurz vor Eintreffen der Spanier in Amerika von den Inkas unterworfen worden war und von dem noch viele Überreste in der Umgebung zu finden sind. Berühmt ist die Festung Kuélap, die auf 2.900 m Höhe im Bergurwald liegt und mit mehr als dreihundert auf drei Ebenen verteilten Gebäuden von so gewaltigem Umfange ist, daß selbst nach jahrzehntelanger, freilich unter erschwerten Bedingungen stattfindender archäologischer Arbeit erst ein Bruchteil der Anlage als erforscht gelten kann.
17 Lt. Brief 11, Z. 6f., dachte Friedrich Kürschner auch an die Gründung einer Sprachenschule. Beides, Handel und Sprachen, war von Anbeginn sein Lehrgebiet; s. Einleitung.
18 ‹Hacienda› (dt. Schreibung ‹Hazienda›; das Wort stammt von span. ‹hacer› > lat. ‹facere› ‘machen, tun, erledigen, arbeiten, werken’) bezeichnet ein im Zuge der Kolonisierung von Andalusien nach Lateinamerika exportiertes Wirtschafts- und Rechtsmodell in Gestalt eines ausgedehnten, Viehzucht und/oder Ackerbau treibenden, hierarchisch organisierten Landgutes mit großem, architektonisch häufig hervorstechendem Herrschaftssitz und einer Siedlung mit Behausungen für die Arbeiter und Pächter, die in lokal je unterschiedlich ausgeprägter, meist, aber nicht immer, (halb‑)feudaler Abhängigkeit gehalten wurden – die Bandbreite reichte von Sklaven‑/Zwangsarbeit über verschiedene Pachtverhältnisse, Tagelöhner- und Leiharbeit bis hin zu freier Anstellung (peonaje) und sogar Genossenschaften. Auch diverse Läden und Werkstätten, eine Kapelle, Kantine, Bar, mitunter sogar Schule, Postamt und Arrestzelle konnten und können sich – je nach Lage und Autarkiegrad – auf dem Gebiet einer Hacienda finden. Manche Haciendas waren mehr oder minder geschlossene Subsistenzwirtschaften, andere trieben lokalen oder regionalen (Tausch‑)Handel, wieder andere funktionierten exportorientiert und kapitalistisch. Während sich das Aufkommen des Hacienda-Modells in Andalusien mit dem 14., in Lateinamerika mit der ersten Hälfte des 17. Jh. relativ klar angeben läßt, ist sein Ende nicht datierbar. Zwar wurde es z.B. in Mexiko durch die revolutionäre Verfassung von 1917 auf dem Papier beseitigt, überlebte dort aber ebenso wie in den übrigen Ländern des Subkontinents, wenn auch natürlich unter Modifikationen und Anpassungen. Es ist wohl zu stark mit der gesamten es jeweils umgebenden Gesellschaft verwoben, als daß es je wirklich aufgelöst werden könnte. Insofern ist das in den vorausgehenden Sätzen verwandte Präteritum auch falsch und wäre jedenfalls schadlos durch Präsens ersetzbar.
19 Fehlendes Komma sic.
20 Vgl. hierzu a. Briefe 3, Z. 40-42 mit Anm.; 12, Z. 8f.; 13, Z. 70. 116ff.; 14, Z. 16ff.; 18, Z. 22f.
21 Käthes zweitjüngerer Bruder (s. Einleitung). – Von Wilhelm hat sich eine mit Bleistift geschriebene, an seine Mutter Marie Utermöhlen in Weferlingen adressierte Postkarte vom 20. August 1924 aus Heimgarten erhalten, worin er seine Rückkehr für «Sonntag» ankündigt. Da der 20.8.1924 ein Mittwoch war, bedeutet dies wohl eine Rückreise am 24.8., jedenfalls für Wilhelm. Ob Käthe mit ihm zusammen fuhr oder noch länger in der Schweiz blieb, ist unbekannt, da Wilhelm nur in der Ich-Person schreibt. Auch über Heimgarten läßt er in der inhaltlich unergiebigen Karte nichts verlauten (die auf ihrer Vorderseite auch keine Ansicht von Heimgarten, sondern von Pontresina zeigt). Von Interesse jedoch der von anderer Hand (oder zwei verschiedenen anderen Händen) ganz an den unteren und oberen Rand der Karte gequetschte, ebenfalls bleistiftgeschriebene Gruß; unten: «Herzl. Gruß Eure Bergheimer», oben, Postkarte auf den Kopf gestellt: «Fr. Ehrt & Familie». Die «Bergheimer», d.h. die Bewohner der ‹Villa Bergheim› in Heimgarten, waren seit 1907 Karl Utermöhlen und seine Familie. Erbaut worden war das prächtige Jugendstilhaus, das weithin als Sehenswürdigkeit und prägendes Gebäude von Heimgarten galt, wohl vor 1895 (vgl. divergente Angaben dazu in Bülacher Neujahrsbl. 1993, S. 48a, einerseits und Beilage ‹Besitzesverhältnisse› andererseits; a.O. Einl./Anm. 9) und wurde jedenfalls ab dann von Familie August Bernhard mit ihrer Tochter Johanna Carolina Bernhard (s. Einleitung) bewohnt. Nach dem Bankrott der Obstbaugenossenschaft und dem Wegzug der Bernhards kaufte es Karl Utermöhlen, der es seinerseits nach seiner wohl durch den Kriegsausbruch motivierten Rückkehr nach Deutschland am 13.8.1940 weiterverkaufte (Bülacher Neujahrsbl. 1993, ebd., S. 48a-b). Der folgende Besitzer richtete mit seiner Hühnerfarm das herrschaftliche Haus mit seinem parkähnlichen Garten zugrunde. Ab 1960 blieb das Gebäude unbewohnt, und seine Sprengung war bereits geplant, als am 12. Juni 1967 ein Feuer ausbrach, bei dem das Haus bis auf die Grundmauern niederbrannte (Bülacher Neujahrsbl. 1993, ebd., S. 43c-44c; 48b-c). – Ob «Fr. Ehrt & Familie» – die Abkürzung steht mutmaßlich für Fritzli Ehrt, einen Sohn oder Enkel von Ida Utermöhlen und ihrem Mann Karl Ehrt (Addendum 2, Z. 10 mit Anm.) – mit in der Villa Bergheim lebte, sich also zu den unterzeichnenden «Bergheimern» rechnete, wie man zuerst geneigt ist anzunehmen, oder nach Karl Ehrts frühem Tod im Juni 1900 in dem von diesem erbauten ‹Haus Sonnenheim› lebte und sozusagen getrennt nach Weferlingen grüßte, muß offenbleiben.
22 Zu dieser Schwester von Friedels Vater s. Einl.; Addendum 2.
23 Es handelt sich um ein briefmarkengroßes Paßbildchen, auf dem Friedel mit Hemd, Krawatte und Anzugjacke angetan ist. Rückseitig quer in der rechten unteren Ecke von seiner Hand: «12.1.24 Lima. Peru.». Er wirkt hier, nicht zuletzt wegen des kürzeren Haarschnitts, deutlich älter, stattlicher und härter im Gesicht als auf dem nur anderthalb Jahre zuvor ebenfalls im Anzug aufgenommenen Bild, das wir versuchsweise Brief 2 zugeordnet haben (s. Brief 2/Anm. 2, Photo Nr. 1).