Brief, hschr., schwarze Tinte auf sechs Seiten, die drei Blatt hellblau linierten Briefpapiers ein­neh­men. Die ersten beiden Blätter um wenige Millimeter kürzer und schmaler als das Quartformat der vor­an­ge­gan­ge­nen Briefe; das dritte Blatt sehr ähnlich liniert, jedoch von etwas dünnerer und hellerer Qua­li­tät als die ersten beiden, mithin aus einem anderen Block genommen und drei Schreiblinien un­ter­halb der Mit­te ab­­ge­schnitten, also verkürzt, zudem noch einmal um 0,5 Millimeter schmaler als die er­sten bei­den Blät­ter. Wie der Vergleich mit dem folgenden Brief 12 erweist, dessen Papier mit Blatt 3 identisch, aber, da un­ge­kürzt, doppelt so lang ist, handelt es sich um ein Specimen des Blattformats US Legal 13'', das 33×21 cm mißt, also länger als das DIN-A4-Format ist. Auf allen Seiten, recto wie verso, schneidet eine senk­rechte, ebenfalls hellblaue Linie die waagrechten Schreiblinien so, daß hier – wegen seitenverkehrter Be­schrif­tung – jeweils ein rechter Rand (statt eines linken) von 4 cm (Blatt 1 und 2) bzw. 4,5 cm (Blatt 3) ent­steht, den der Schreiber jedoch nicht beachtet, d.h. über den er hinweggeschrieben hat. Blatt 1 trägt oben rechts einen Einriß, der bis in die Datumszeile reicht. Auf Blatt 2 Fortsetzung des Briefes unter Da­tum 16. August 1924. Kein Um­­schlag.

1 Sócota, den 19. Juli 1924.1

Liebe Käthe! Jetzt sind wir aus der Wildnis, d.h. aus dem Innern wieder heraus und bald wird’s ganz an die Küste gehen. In meinem letzten Briefe vom 8. Juni (noch aus Ocallí) schrieb ich Dir ja schon davon. 4 Papa hat eingesehen, daß er an der Küste viel mehr verdienen kann 5 und so ist er schon seit einem Monat in Chiclayo, einer Stadt von hier aus direkt in vier Tagen 6 erreichbar an der Küste.2 Mit der Zeit wird er dort wohl eine Schule für Sprachen und 7 dergleichen einrichten.3 Bis Papa dort für die Familie eine passende Wohnung gefunden hat bleibt [sic] seine Frau und Kinder solange hier in Sócota, einem netten Ort, in den Bergen gelegen, aber wenigstens wieder mit etwas Kultur. In vier Tagen kann man von hier an die 10 Küste und die einsamen Gegenden und auch den Amazonenstrom haben wir nun wieder hinter uns. Wir haben von Ocallí bis hierher sechs Tage gebra{u}cht, da die Tiere ziemlich schwer beladen waren. Die Aufstiege aus dem Amazonental und andern Tälern die wir passieren müßten [sic], jedesmal wieder auf eine │ Höhe von ca. 3000 m, waren sehr mühsam; heiß brannte die Sonne einem auf den Rücken und wenn man dann wieder glücklich mit allen Tieren ohne Unfall hoch oben war, wo eine frische Luft ging, dann hatten Mensch und Tier so genug, daß man nicht mehr weiter ging. Alle fünf Nächte haben wir draußen kampiert; die Nacht unten am Amazonenstrom, direkt am rauschenden Wasser auf Sand gebettet und den klaren Sternenhimmel über sich, war recht schön.18  Aber doch war man froh nach einer Woche Marsch, sich wieder in einer ordentlichen Wohnung in’s Bett legen zu können. Vierzehn Tage sind wir nun schon hier in Sócota und fühlen uns doch wohler als in Ocallí. Sócota ist ein nettes Örtchen mit gepflasterten Straßen, nette freundliche Ziegelhäuser mit Veranden geben ein angenehmes Bild. 22 Der hiesige Pfarrer ist ein Deutscher, aus dem Rheinland, ein sehr gemütlicher und lustiger Herr der schon bald zwanzig Jahre im Lande ist und nicht mehr fort will.4 Die Pfarrer 24 verdienen hier sehr viel. Eine weitere Familie aus Ulm, ein Bekannter von Frau Kürschner5 der eine Engländerin zur Frau hat,6 ║2║ wohnen auch hier, kamen kurz nach uns, es geht ihnen hier sehr gut. 25 Hier kann man wenigstens wieder einigermaßen europäisch leben. Bis zur Küste sind’s von hier nur noch vier Tage. In einigen Wochen werde ich wohl auch hingehen können. Vielleicht komme ich auf eine große Hacienda nicht weit von Chiclayo wo ziemlich <viele> Deutsche wohnen; deutsche Handelshäuser auch ein Schweizerisches sind dort; sogar eine deutsche Brauerei.

31 den 16. August 1924.

Seit einigen Tagen bin ich wieder auf; ich hab das Fieber gehabt; recht stark, über eine Woche jeden Tag 41-42° und zuletzt immer 42° sodaß [sic] ich einigemale glaubte es könnte zu schlimm werden. Nachts dabei nie geschlafen, so bin ich in den Wochen in denen ich zu Bette lag recht schwach geworden. Hoffentlich ist’s überstanden, ich möcht’s nicht mehr durchmachen. Die ganze Gegend hier bis zur Küste ist fieberfrei; auf der Reise vom Innern hierher sind wir einigemale, wir haben ja immer draußen kampiert, von Moskitos sehr 38 verstochen worden und das sind ja in den Tropen oft gefährliche │ Fieberüberträger, vielleicht hab ich’s von denen bekommen.7 Na, hoffentlich ist’s vorbei.

Von einer großen Hacienda an der Küste erwarte ich mit einer der nächsten Küstenpost [sic] auch Antwort und sobald ich mich genügend erholt habe geht’s los. Es ist mir recht dann 42 gibts wenigstens wieder geregelte Arbeit im Berufe und man verdient was.

Letzte Woche war hier wieder Fest; im Feiern ist man hier sehr großzügig, fast alle Woche{n} wird irgendein katholischer Heiliger gefeiert und alle paar Wochen kommt ein großer Heiliger dran.8 Drei Tage vor den Feiertagen fing’s an mit Feuerwerk und Musik, aber Tag und Nacht, morgens in aller Herrgottsfrühe wird geschossen und die Musik zieht im Ort herum,9 Noch bei Dunkelheit um 4 Uhr herum geht der Lärm los und dann spielt die Musik – mit kaum merklichen Unterbrechungen andauernd ohne Aufhören, aber natürlich immer das Gleiche. Zum Ausfeiern geben [sic] auch verschiedene Tage drauf sodaß wie das letzte Mal aus zwei eigentlichen Feiertagen immer eine Woche wird. Und dann wird durchgesoffen die ganze Nacht, tagsüber manch Betrunkene. Viele die von den benachbarten Dörfern zum Fest kommen übernachten draußen wo es Platz hat; um die Kirche herum auf dem Boden sitzend an die Mauer gelehnt, die Leute sind ja sehr anspruchslos. ║3║ Beim Fest letzte Woche waren auch „Stierkämpfe“ zu sehen, nur in etwas ländlicher Auflage, Blutvergießen gab’s hierbei nicht; der große Platz neben der Kirche mitten im Ort wurde durch einen starken Holzzaun verbarrikadiert und dann ein Stier reingelassen. Mit bunten Mänteln, Feuerwerk, Rufen und Steinen der Stier gereizt; jeder konnte in den Ring, meist waren es halb Betrunkene, die oft von Glück sagen konnten wenn sie nicht auf die Hörner kamen und mit einigen unsanften Rippenstößen davon kamen. In Cutervo, dem nächsten Ort von hier,10 sind vor einigen Wochen als dort Festwoche war,11 einige zu Waghalsige, oder auch nicht wie <man> will um’s Leben gekommen; einer wurde vom Stier auf die Hörner genommen und in die Luft geschleudert, der war gleich tot; aber trotzdem, ohne diese „Spiele“ können die │ Leute nicht sein.

 63 Schade daß ich keinen Photo-Apparat hier habe, interessante Aufnahmen gäbs genug. Einer der Deutschen hier hat einen vielleicht gibts12 mal ein Bildchen {bevor ich von hier fortgehe}, dann werd ich Dich nicht vergessen.

 Für heute, Käthe, laß mich schließen, ich grüße Dich herzlich als

Dein Friedel.

An Deine Lieben zu Hause recht viele liebe Grüße; für Hans13 auch einige Marken; später wenn ich mal an der Küste bin, kann ich ihm mehr schicken.

 Anmerkungen

1 Sócota (heute gelegentlich auch ohne Akzent geschrieben) ist die Hauptstadt des gleichnamigen Distrikts, eines von 15 der Provinz Cutervo, die zusammen mit zwölf anderen Provinzen das Departamento de Cajamarca im Nordwesten Perus, westlich der Region Amazonas (s. Brief 10/Anm. 2), bildet. Die Stadt liegt ungefähr auf der Hälfte des Weges zwischen dem amazonischen Chachapoyas (Brief 10/Anm. 16) und dem westlich, in Küstennähe situierten Chiclayo (s. folgende Anm.).

2 Im 16. Jh. gegründete Hauptstadt des nordwestlichen Departements Lambayeque, in der schon präinkaïsche Kulturen siedelten und noch anfangs des 20. Jh., also bis in Friedel Kürschners Zeit hinein, diverse indigene Sprachen wie das Lambayeque-Quechua und Mochica/Muchik kurrent waren. – Bis heute ist Quechua neben Spanisch und Aymara eine der drei Amtssprachen Perus, und annähernd 14 Prozent der Bevölkerung bekennen sich zu verschiedenen Quechua-Varietäten als ihrer Muttersprache.

3 s. Brief 10, Z. 57 mit Anm., und Einleitung.

4 Friedel schreibt zwar häufig «Pfarrer», doch spricht vieles dafür, daß er ‹Priester› meint: Peru, von dem es im folgenden Satz heißt, «[d]ie Pfarrer verdienen hier sehr viel», ist – und war damals noch viel mehr – ein katholisches Land, ebenso wie das Rheinland, woher der erwähnte deutsche Geistliche stammt; auch trägt dieser Rheinländer auf einem Photo, welches Friedel seinem nächsten Brief beigelegt hat, eine Soutane (s. Brief 12, Z. 41 mit Anm.).

5 Vermutlich die zweite Frau von Friedels Vater, von der wir bereits erwogen, daß sie aus Ulm gestammt haben könnte (s. Einl.) – eine recht distanzierte Titulierung der Stiefmutter, die sich in Brief 15, Z. 5, erneut findet..

6 s. Brief 12, Z. 43f.

7 Im Amazonasgebiet v.a. östlich der Kordilleren ist die weibliche Stechmücke der Gattung Aedes aegypti Überträgerin u.a. von Gelbfieber und Dengue-Fieber, die der Gattung Anopheles von Malaria. Alle drei Krankheiten, von denen Nordperu, anders als Friedel meint, keineswegs frei war (noch heute ist), gehen mit hohem Fieber über 39°C einher. In späteren Briefen berichtet Friedel von Malaria-Anfällen, die ihn immer wieder heimsuchen (Briefe 22, Z. 8ff. 22ff. mit Anm.en; 24, Z. 51; ■■■).

8 Tatsächlich ist Sócota berühmt für zwei große religiöse Feste: das der Virgen de la Candelaria (Mariæ Lichtmeß, 2. Feber), welches dort vom 31. Januar bis zum 5. Februar, und das des San Lorenzo, das vom 7. bis zum 11. August eines jeden Jahres gefeiert wird, da der Märtyrer Laurentius der Überlieferung nach am 10. August 258, vielfach gefoltert, auf einem glühenden Eisenrost hingerichtet wurde. Auf das Fest dieses wichtigen katholischen Heiligen, Schutzpatrons etlicher Berufsgruppen und zahlloser Orte auf der Welt, darunter eben auch Sócota, bezieht sich Friedel in Z. 42.

9 Komma statt Punkt sic.

10 Hauptstadt der gleichnamigen Provinz (s.o. Anm. 1).

11 In Cutervo findet im Juni die sog. Feria Taurina de San Juan statt, also ein Stierkampf-Fest zu Ehren Johannes des Täufers, eines Schutzpatrons der Stadt. Seinen Höhepunkt und Abschluß findet das Fest in der Nacht auf Johannis (24. Juni).

12 Zuerst wohl «gäbts» oder «gebts», mglw. in unbewußtem Rückgriff auf das vorausgegangene «gäbs» (Z. 63), dann den Vokal flüchtig in ‘i’ korrigiert, dabei aber keinen i-Punkt, sondern einen für das ‘ä’-Trema stehenden Strich gesetzt bzw. stehenlassen.

13 Käthes um zwei Jahre jüngerer Bruder; vgl. Einl.; Briefe 8, Z. 46f. mit Anm.; 12, Z. 39 mit Anm.