Brief, hschr., schwarze Tinte auf fünf Seiten und ebenfalls fünf (da einseitig beschriebenen) Blättern dün­nen, schwach gerippten Papiers der Größe 21,4×27,4 cm. Rand freigelassen, kleiner Einriß in der linken Mittelfalz des ersten sowie der rechten Mittelfalz des zweiten und fünften Blattes; kein Umschlag.

Hda1 Pucchum, Camaná, Peru.

den 17. Novbre2 1927.

 Meine liebe Käthe!

4 Am 26. Oktober erhielt ich Deinen Brief vom3 23. Sept4 aus Braunschweig.5 Käthe, ich war etwas beschämt beim Lesen Deiner Zeilen; nur das Eine was Du sagst vom Erkennen des 6 Beiseitegeschobensein [sic], stimmt nicht. Was ich nicht getan habe, das ist, ich habe nicht geschrieben; ich habe überhaupt fast nirgendswohin geschrieben, weil ich zum Schreiben keine Lust hatte. Und daran waren die Lage und die Verhältnisse durch die wir gegenwärtig durchgehen, schuld. Dies sollte ja eigentlich kein Grund sein, nicht zu schreiben und oft in solchen Fällen schieben sich die Entscheidungen länger hinaus als man denkt und damit auch das Briefeschreiben.

12 Die Gesellschaft, der hier die Hacienda gehörte und deren ║II.║ Hauptaktionäre in Paris wohnen,6 hat ihre Verbindungen mit dieser Hacienda liquidiert und nun hat ein Bruder des Präsidenten von Peru die ganze Hacienda gekauft.7 Diese Unterhandlungen haben ca. fünf Monate gedauert von Juni an; und nun erwarten wir nächsten Monat den neuen Besitzer um dann zu sehen wie alles hier weitergeht. Mit diesem Wechsel hat sich meine Stellung nun auch verändert und <ich> werde erst bei Ankunft des neuen Besitzers sehen, in welcher Form ich hier weiterarbeiten kann. Bei der alten Gesellschaft die mich schon kannte, war ich in gutem Fahrwasser und in wenigen Jahren mehr hätte ich mich recht gut gestellt. Jetzt wollen wir sehen was die neuen Herren sagen und im günstigen Falle fängt man eben mit diesen wieder an. 20

║III.║ Ja, Käthe, ich bin ein sehr undankbarer Kamerad, die Verhältnisse hier und die Menschen stumpfen einen ungemein ab. Die Menschen hier kennen überhaupt keine Gefühlen [sic] und alles was sie sagen ist Heuchelei und Lüge und man muß immer die beste Form suchen mit ihnen gut fertig zu werden; indem man eben auch etwas heuchelt und das was sie einem sagen blos [sic] für Höflichkeit hält. Um Recht kümmert man sich überhaupt nicht, sondern nur um die momentane Nützlichkeit. So ist’s eben hier, aber man hat sich daran gewöhnt und nur wenn Briefe aus der Heimat kommen, dann wird man wieder etwas aufgerüttelt und der ungeheure Unterschied der Menschen hier und dort,8 wird einem klar.9

║IV║ 10Wenn einmal der neue Besitzer hier war und wir wissen, woran wir sind, dann werde 30 ich meine Mutter, die immer noch in Brasilien ist, kommen lassen und weiß daß ich dann sehr zufrieden sein werde.11 Das heißt zufrieden werde ich nicht eher sein als {bis} ich meine Stellung neuerdings wieder gesichert haben werden [sic] und weiß auf was für einer Grundlage ich weiter arbeiten kann. Daraus ergibt sich alles weitere von selbst.

34 Sonst was Liebes hier hab ich nicht, hab noch nichts gesehen bis jetzt, aber auch nicht gesucht. Kennen gelernt viel und stunden weise sich vorgetäuscht etwas genoßen zu haben, aber weiter nichts. Weiter können einem die Frauen hier auch nichts geben und man muß sie eben so nehmen wie sie sind, dann erwartet man ║V║ auch nicht mehr. 37 

12 Karli  38 hatte eine gute und schöne Überfährt [sic], war vier Monate bei mir in Pucchum, wo es 39 ihm recht gut gefiel und ist nun für einige Zeit nach Arequipa gefahren wo er jedenfalls bleiben wird, bis Mama 40 kommt.13

Käthe, danken möchte ich Dir von ganzem Herzen daß Du mir diesen Brief sandtest; ich hab ihn wirklich nicht verdient.

Laß Dich vielmals und herzlich grüßen Käthe, sei Du besser wie ich und antworte mir doch wieder.

Das wünscht sich

Dein

Friedel.

 Anmerkungen

1 Fehlender Abkürzungspunkt sic.

2 Sic, ohne Punkt, für span. ‹noviembre›.

3 Anfangsbuchstabe liest sich wie ‘w’.

4 Fehlender Abkürzungspunkt sic.

5 Seit Anfang 1927 arbeitete Käthe im Kontor einer Braunschweiger Konservenfabrik und lebte deshalb nicht mehr in Beienrode, sondern zusammen mit ihrer Mutter in Braunschweig (s. Einleitung).

6 Zur Braillard-Gesellschaft s. Brief 17, Z. 22ff. mit Anm.

7 Roberto E. Leguía Salcedo (16.2.1866-?. ?. 1930), jüngerer Bruder des zur Zeit der Briefabfassung amtierenden peruanischen Präsidenten (zu welchem s. Brief 8/Anm. 7, zweite Hälfte), war wie dieser nicht nur in der Politik, in der er gleichfalls hohe Ämter bekleidete, sondern auch in der Bewirtschaftung seines Großgrundbesitzes aktiv. Zwischen 1912 und 1927 allerdings lebte er im argentinischen Exil, nachdem politische Konflikte, die in einen Putsch mündeten, ihn um die bevorstehende Ernennung zum Ersten Vizepräsidenten des Landes gebracht hatten. Während der Elfjahresherrschaft, des sog. Oncenio, seines Bruders (s. ebda.) wurde er zum Senator für das Departamento Arequipa (Brief 16/Anm. 3 mit weiteren Verweisen), nach manchen Quellen auch Lambayeque (Brief 11/Anm. 2), gewählt und kehrte deshalb in seine Heimat zurück, wo man ihn sogleich zum Senatspräsidenten erhob, der er bis zum nächsten Putsch im August 1930 blieb (zu Roberto Leguía noch einmal Brief 20, Z. 19ff.; zum Putsch 1930, von Friedel «Revolution» genannt, s. Brief 23, Z. 48ff.).

8 Komma sic.

9 Die Desillusionierung, die aus diesen Zeilen spricht, markiert sicher eine natürliche Phase in der Adaptation eines jeden Auswanderers, die typischerweise dann eintritt, wenn das Neue als solches ihn nicht mehr völlig absorbiert und der eigentliche Prozeß der Integration beginnt – der Integration des Neuen in den Seelenhaushalt des Immigranten und der Integration des Immigranten selbst in seine neue Umgebung. In Friedels Fall dürfen wir den konkreten Auslöser wohl in dem unerwarteten Besitzerwechsel der Hacienda sehen (der womöglich unter juristisch dubiosen Umständen vonstatten ging – ein in Anbetracht der politischen Konnexionen des Käufers nicht ferne liegender Gedanke –, woraus der Eindruck des Rechtsnihilismus und reinen Opportunismus sich speisen könnte), welcher ihn in neue Ungewißheit stürzte, nachdem er gerade geglaubt hatte, eine Lebensstellung gefunden zu haben (s. Brief 17, Z. 34f.). Auch seine in Z. 34-37 angedeuteten enttäuschenden Erfahrungen mit Frauen werden ihren Anteil an dieser bei allem fortbestehenden Friedel-Pragmatismus doch etwas bitteren (Zwischen‑)­Bilanz haben.

10 Fehlender Absatzeinzug sic.

11 Zur Einladung an die in Brasilien lebende Mutter s. Brief 17, Z. 100ff. mit Anm. – Das im Zusammenhang mit einem Wiedersehen der ihm so lange entzogenen Mutter seltsam spröd oder behäbig anmutende Wort «zufrieden» erklärt sich wohl als unidiomatische (Rück‑)Übersetzung aus dem Spanischen: «Estaré muy contento» würde dieses hier nämlich formulieren, und während ‹contento› (> lat. contentus > contineo ‘enthalten, umfassen, beschränken, sich begnügen, zufrieden geben/sein’) durchaus die Bedeutung ‹zufrieden› annehmen kann, wird es wesentlich häufiger im emphatischeren Sinne von ‹glücklich› verwandt, insbes. in der Verbindung mit ‹muy/sehr›. Es ist naheliegend, daß Friedel nach fast vier Jahren im Medium einer neuen Sprache anfängt, aus ihr ins Deutsche rückzuübersetzen, was er darin ausdrücken will, da seine Muttersprache ihm, besonders bei fehlendem Alltagsgebrauch, immer weniger intuitiv zu Gebote steht.

12 Fehlender Absatzeinzug sic.

13 Dieser Zusammenhang und insbesondere auch die (in der Korrespondenz erstmalige) Verwendung des Kosewortes ‹Mama› in ihm bildet einen Anhaltspunkt dafür, in Karli einen Bruder Friedels zu sehen: Brief 18/Anm. 11.