VIII. Die Dorfgemeinschaft im Wandel der Geschichte

 Was unsere Vorfahren in einem so kleinen Dorf im Wandel der Landes oder gar Weltgeschichte erlebten, weit seitab von den großen Heerstraßen, auf denen die Mächtigen dieser Welt einherzogen zur Eroberung und Abwehr der Feinde, das steht in keiner Chronik geschrieben. Wir müssen es gleichsam zwischen den Zeilen der Berichte aus Mittelalter und Neuzeit herauszulesen versuchen. Dörfer werden darin bezeichnender-

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Abb. 9 Das Dorf vom Kirschenberg heute (Foto: Henning Barnstorf)

weise nur dann erwähnt, wenn in ihrer Nähe eine Schlacht stattfand oder wenn sie vom Feind angezündet und beraubt waren. Das aber geschah im „täglichen Krieg des Mittelalters“ auch in unserer Heimat während der nie endenden Fehden der Stadt Braunschweig mit ihren Landesfürsten oder der Bischöfe, Herzöge und Adligen untereinander sehr oft. Danach verheerten Religionskriege wie der Schmalkaldener um 1540 und der schreckliche Große Krieg 1618 bis 1648 auch das Land zwischen Elm und Asse. Stets mußte der Bauer die Haare lassen, wenn sich die großen Herren zausten. Dem „gemeinen Mann“, wie man ihn abschätzig nannte, blieb nichts als das resignierte „Duck dich, duck dich in die Zeiten!“ Es ist auch heute noch der Kehrreim seines Klageliedes.

Weferlingen lag wohl abseits großer Heerstraßen und war in seiner Kleinheit auch nicht ein lohnendes Objekt für plündernde Söldnerhorden. Not und Elend, das die Kriege hinterließen, mußten seine Bewohner aber bis in die jüngste Zeit genau so tragen, wie die Städter. Mehr aber als diese waren sie im ewigen Rhythmus der Jahreszeiten, von Saat und Ernte dem Geschick in Gestalt von Unwettern, Mißwachs und Seuchen bei Menschen und Vieh preisgegeben. Der Städter verzeichnete das in seinen Chroniken auch als Notzeit, aber die begann auf dem Dorfe.

Von den Stammeskriegen, die die Völkerwanderung begleiteten, vom Kampf der Sachsen und Thüringer und der Eroberung des Landes durch die Franken wurde oben schon berichtet, Die Weferlinger müssen durch 500 Jahre aktiv als mit Speer, Schwert und Bogen kämpfende Jungmannen oder passiv als in die Elmburgen flüchtende Greise, Frauen und Kinder daran beteiligt gewesen sein. Es kam dann anscheinend im 9. Jahrhundert unter fränkischer Herrschaft zu einer längeren Zeit des Friedens und Wohlstandes.

924 aber brachen die Ungarn zur Eroberung des westlichen Abendlandes auf ihren flinken, kleinen Rossen auf und kamen bis zur Werla, der Kaiserpfalz bei Burgdorf. Heinrich der Vogler schlug sie 933 an der Unstrut. 938 zogen die „Tatern“ erneut heran und es kam südlich der Asse und bei Steterburg zu einem heißen Gefecht, bei dem ein Teil der Feinde nach Norden bis zum Drömling bei Vorsfelde abgedrängt wurde. Daß unser Dorf von ihrem Zug verschont wurde, ist unwahrscheinlich.

In den folgenden Jahrhunderten werden in den vielfachen Kämpfen sächsischer und welfischer Fürsten untereinander auch wehrfähige Söhne Weferlingens, wie Hahne von Hachum annimmt, etwa 1072 den Kaiser Heinrich IV. Auf der Harzburg belagert haben, von wo aus er sich heimlich auf den noch heute so genannten Kaiserweg nach Nordhausen rettete. Oder sie werden mit Kaiser Lothar aus Süpplingenburg 1136 nach Italien gezogen sein, vielleicht gar mit dessen Enkel Heinrich dem Löwen ins heilige Land. Als 1298 oder 1299 die Burg Weferlingen von den Braunschweigern geschleift und nicht wieder aufgebaut wurde, verließen die Edelherren ihren Stammsitz und die Bauernhöfe verlagerten sich in die Nähe des Burggeländes. Damals hat der Ort seine aus den abgebildeten Karten ersichtlihe Form erhalten. Die Wehrkirche wird auch dann noch oft Schutz gegen Räuber- und Söldnerbanden haben bieten müssen. Im Schmalkaldener Krieg, in dem die siegreichen Truppen lutherischer Fürsten nicht vor der Schändung von Gräbern in Riddagshausen zurückschreckten, aus denen sie katholisch bestattete Leichen von Verwandten des Herzogs Heinrich rissen, um sie den Schweinen vorzuwerfen, in dieser Zeit um 1540 wurde auch die Eilumer Kirche ausgeplündert. Weferlingen wird wieder nicht verschont geblieben sein.

Herzog Julius, der erste Jutherische Herzog, und sein Sohn und Nachfolger Heinrich Julius (1589 — 1613) hatten viele Kämpfe mit ihrer unbotmäßigen Stadt Braunschweig zu führen. Dabei plünderte man bei langen Belagerungen in Ausfällen die Dörfer des Gegners, um Proviant für die eignen Landsknechte zu beschaffen.

Freilich kamen die Braunschweiger dabei im Allgemeinen nur bis in die stadtnahen Dörfer des Herzogs und nicht bis Weferlingen. Aber bei einem solchen Ausfall am 14. Mai 1602 brandschatzten sie auch einmal nach einem Zuge über Evessen und Ampleben die Stadt Schöppenstedt, deren, Bierbrauerei zum Export zugunsten des Herzogs ihnen unerträgliche Konkurenz machte. Die Söldner der Stadtherren haben dort schrecklich gehaust. Sie zerstörten sämtliche Braupfannen, raubten die Stadtkasse, schändeten Frauen und Mädchen und ein Teil von ihnen ritt auch über Adelem (Eilum) und den Reuterweg zurück. Dabei raubten sie zwei Weferlinger Bauern die Pferde. Der Herzog ließ später zur Begründung seiner Klage beim kaiserlichen Reichsgericht alle Schandtaten der Braunschweiger und die Vernehmungsprotokolle seiner Untertanen in 4 dicken Bänden, kurz als „Braunschweiger Händel” zu zitieren, schildern und drucken. Im Band 3 Seite 1860 sagt Bernd Koch vom Hofe Nr. 3 aus: "Sagt, habe es von seinem Nachbarn gehört, daß die von Brschwg. Gestern einen Ausfall gethan, und gen Scheppenstedt gezogen, daselbst alles, was sie können bekommen, geplündert, Viehe, Pferde, Braupfannen, Korn und anderes mit hinwegk genommen, das Bier zum Theil ausgesoffen, zum Theil in den Dreck lauffen lassen, Im Rahtskeller haben sie Branntewein gefunden und solchen in den Keller lauffen lassen, Fenster und Thüren außgeschlagen und elendt gehandelt, sie haben auch meinem Knecht, der mit einem ledigen Wagen nach dem Holtze gefahren, hinter dem Dorff Adelem drey Pferde außgespannen und mit sich hinweg genommen, die Strenge entzwey geschnitten, undt Sattel und Sehlen mit sich genommen. Clawes Fricken haben sie 5 Pferde genommen.”

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Abb. 10 Eingang ins Dorf von Norden (links Hof Nr. 8, hinten Nr. 3) (Foto Henning Barnstorf)

Bei einem anderen Ausfall der städtischen Heerhaufen nahmen sie einmal den Pastor aus Dettum gefangen und ließen ihn von einem Esel in einem grünen Gewand als Narr ausstaffiert im Triumph in der Stadt herumfahren. 1606 lauerten „Spähtrupps” der Braunschweiger dem Herzog Heinrich Julius unweit der Zingel auf, um ihn zu erschießen. Er konnte sich mit eiligem Ritt durch den Sumpfbezirk des Dettumer Filgensees nach Wolfenbüttel retten, während sein Sekretär elend erschossen wurde.

Besonders schlimm aber traf die Dörfer dann der 30-jährige Krieg, in dessen endloser, durch Seuchen noch geschärfter Leidenszeit ganz Deutschland in Not und Elend geriet, deren Spuren noch 100 jahre später nicht getilgt waren. Tillys Truppen, aber auch die Schweden belagerten mehrfach die Residenz Wolfenbüttel. Aus dem nahen Atzum rettete damals mein Ahnherr Henning Barnstorf die heiligen Geräte als Kirchenvorsteher nach Braunschweig. 1626 lagerten Tillys Truppen wochenlang vor Groß-Vahlberg und brandschatzten von dort aus die Dörfer, natürlich auch Weferlingen. Spottnamen wilder und grausamer Hauptleute wie „Schrammhans”, nach seinem Narbengesicht so genannt, oder „Nimmernüchtern“sind böse und vielsagend. Sie erinnern an die Gestalten aus dem unvergleichlichen Roman von Hermann Löns „Der Wehrwolf“, in dem die ganze grausame Notzeit eines Bauerndorfes der Heide dichterisch festgehalten ist. Von der Weferlinger Kirche schreibt der Eilumer Pastor in einem Bericht, sie sei des Holzwerks (der Inneneinrichtung) und der Glocke beraubt.

 Als dann 1648 endlich „erschollen das edie Fried’ und Freudenwort”, da fanden unsere Vorfahren mit ihren ostfälischen Wesenseigenschaften: Fleiß, nüchterne Beurteilung der Sachlage und mit jenem Humor, den ihr Landsmann Till Eulenspiegel aus dem nahen Kneitlingen verkörpert, wieder zum bescheidenen Dorfleben in ruhigeren Zeiten zurück. Von der großen Welt und ihren Händeln erfuhren sie nur das, was sie beim Besuch der Märkte in Schöppenstedt, Wolfenbüttel oder Braunschweig oder bei den Zehntfuhren zum Kreuzkloster hörten. Manchmal brachten wohl auch Reisende, die in der Zingel einkehrten, Kunde von den Weltläuften mit. Denn Zeitungen, die um diese Zeit schon in Wolfenbüttel als eine Art von Flugblättern entstanden, kamen noch lange nicht ins kleine Dorf. Höchstens der „Braunschweigische Kalender” aus dem Verlag von Joh. Heinrich Meyer, der seit 1650 bis heute ununterbrochen in jedem Jahr erscheint, lag unter dem Trankrüsel an Winterabenden auf dem gescheuerten Holztisch und man konnte daraus das Wichtigste über Viehmärkte und Messen herausbuchstabieren. Die noch heute in aller Welt geschätzte und im „Mummelied“ (aus dem Theaterstück eines Braunschweiger Herzogs) gerühmte Brunswiker Wost stand in einer Schüssel wohl daneben. Geburt und Taufe, langdauernde Hochzeitsfeiern mit dickem Reis und Zimt, gaben immer wieder Anlaß zu dörflichen Festen. Aber auch Krankheit und Tod unterbrachen die mühevolle Arbeit auf den Feldern, die wie eh und je mit Hecken, Buschwerk und Grasängern unter dem ewig wechselnden Mond und der launischen Sonne lagen.

 Wenn Krankheit ins Haus kam, ein Arzt war höchstens in der Stadt zu finden. Man wandte sich an den heilkundigen Schäfer, die Bademutter (Hebamme) oder an eine weise, alte Frau, die als „Pisskikersche” aus dem Urin die Krankheit ablas. Man war das alles, das Gute und das Schlimme, seit 1000 Jahren gewohnt, man stellte es Gott anheim.… Freilich, ihm und der von ihm eingesetzten Obrigkeit ließ man gehorsam manches Ungemach durchgehen, nicht aber dem Nachbaren oder dem, der alte Rechte eigenmächtig verletzte. Dagegen wandte man sich in manchmal eigensinnigem Rechtsverlangen, wie es auch zum Ostfalen gehört, mit langwierigen Prozessen. Solche, über die genauer zu berichten hier kein Platz ist, führte die Menne oder Gemeinde z. B. Gegen den Schriftsassenhof Nr. 5 und dessen Herrn von Streithorst und Nachfolger im 17. Jahrh. Wegen der gebührenfreien. Weide seiner Schafe auf den Gemeindegrasungen. Oder man verklagte die Höfe Nr. 2 und 3, die den gewohnheitsrechtlich entstandenen Fußweg vom Unterdorf zur Kirche nicht mehr durch ihre Burgstelle gehen lassen wollten. Aus den zahlreichen Prozeßakten des Staatsarchivs Wolfenbüttel lassen sich oft viele Hinweise auf die damaligen Dorfbewohner entnehmen. Dagegen habe ich glücklicherweise keine Akte gefunden, in der einer armen Frau der peinliche Prozeß wegen Hexerei in Weferlingen gemacht wurde. Gerade zu Zeiten des Herzogs Heinrich Julius und’ danach mußten vor dem Lechelnholz bei Wolfenbüttel viele solcher Unglücklichen nach grausamer Tortur den Scheiterhaufen besteigen.

 Nach längeren friedlichen Zeiten zog der Krieg mit seinem Elend wieder durch unser Land, als im siebenjährigen Krieg die französischen Feinde Friedrichs des Großen bis in das Altönautal vordrangen und Dörfern und Städten harte Kontributionen an Korn und Geld auferlegten. Der Bauermeister Hennig Langelüddecke hat ein Verzeichnis über 17 im Dorf konfiszierte Pferde an die herzogliche Kammer geschickt, dessen handschriftlicher Entwurf sich in meinen Familienakten erhalten hat. Des Herzogs Bruder Ferdinand war des preußischen Königs getreuer und begabter Feldherr, der die Franzosen bei Minden unter ihrem General Soubise entscheidend schlug und nach Westen zurück trieb. Ob dabei Weferlinger Söhne als Soldaten halfen, wissen wir ebenso wenig, wie wir von ihrer Teilnahme an den 50 Jahre danach gegen den gleichen Feind geführten unglücklichen Schlachten bei Jena und in den Befreiungskriegen bei Waterloo und Quatrebrs etwas erfahren können. In beiden Bataillen fiel ein Braunschweiger Herzog; Karl Wilhelm Ferdinand bei Jena und sein Sohn, der „schwarze Herzog” Friedrich Wilhelm bei dem belgischen Dorf vor genau 150 Jahren. Dagegen steht nach den Unterlagen fest, daß kein Weferlinger im Winter 1812 in dem russischen Eis beim Rückzug Napoleons umkam.

1788 hatten die schwarzen Pocken nach dem Kirchenbuch aus vielen Weferlinger Familien ihre Opfer geholt. Wie schon oben erwähnt, raffte die Tuberkulose Kinder und Erwachsene oft früh dahin. Nur wenige Menschen wurden alt. Das Durchschnittslebensalter lag damals infolge von Infektionskrankheiten und Kindbettfiber bei 40 Jahren! Das, was man heute Hygiene nennt und deren Überwachung durch amtlich befugte Ärzte gab es noch nicht bis in die letzten Jahre des 19. Jahrh. Unsere Urgroßeltern lebten in der „gesunden Landluft“ keineswegs gesünder und richtiger als die Städter, und so ist es bis heute geblieben, wo wir manche sog. Zivilisationsschäden bei den Reihenuntersuchungen bei Dorfkindern häufiger antreffen, als bei Stadtkindern.

Als dann im 2. Drittel des 19. Jahrh. Durch die Separation (für Weferlingen von 1834 – 1855) ganz neue wirtschaftliche, aber auch sozialpsychologische Verhältnisse entstanden,

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Abb. 11: Mühlengrundstück Nr. 4 (Aus dem 17. Jahrh.) (Foto privat)

als das Maschinenzeitalter mit der rapiden Entwicklung der Industrie ins Dorf hineingriff, da wurden auch die Lebensformen der Weferlinger Bauern, ihres Gesindes und aller sonstigen Dorfbewohner rasch und immer rascher umgewandelt und städtischen Gewohnheiten mehr und mehr angeglichen.

Zunächst war noch die Postkutsche von Wolfenbüttel nach Schöppenstedt und weiter nach Schöningen und Magdeburg gefahren. Sie hielt aber nicht wie heute der Bus auf dem Kirschenberg, sondern fuhr mit Tra-ra des Postillions ohne Halt von Dettum bis Schöppenstedt. Aber dann ward als eine der ersten Staatseisenbahnen mit Rat und Planung des Herrn von Amsberg (ein Nachkomme von ihm soll jetzt holländischer Prinzgemahl werden) die Eisenbahn von Braunschweig nach Oschersleben 1843 gebaut. Die an der Zingel geplante Haltestelle scheint durch Kurzsichtigkeit der Gemeinden Weferlingen und Groß-Vahlberg aufgegeben zu sein. So mußten die Weferlinger bis nach dem 2. Weltkrieg durch schlammige und teilweise eigentlich für den Durchgang gesperrte Wiesenund Feldwege am Mühlenbach und der Altenau entlang zum Bahnhof Dettum pilgern, was für Schulkinder der Wolfenbüttler Schulen nicht immer ein Vergnügen war. Die Eisenbahn, deren Wärterhäuschen an der Altenaubrücke an der Straße nach Vahlberg stand — sie führte durch die einst unwegsame „schwankende Wiese“ der inzwischen durch Gräben und Drainage trocken und fest gewordenen Meesche — der Bahnhof Dettum und die 1870 dort errichtete Zuckerfabrik wurden nun von immer mehr Dorfbewohnern als Arbeitsstätte gesucht. Als in den Jahrzehnten danach die Kalibergwerke der Asse weitere industrielle Beschäftigungsmöglichkeiten boten, änderte sich die rein bäuerlich bestimmte Zusammensetzung, des mit seinen wenigen Höfen zu kleinen Dorfes langsam.

Damit wandelten sich auch manche dörflichen Bräuche und Lebensgewohnheiten. Der Trankrüsel wich dem helleren Licht der Petroleumlampe, die noch in meiner Kindheit einzige Leuchtquelle war. Nachrichten aus der weiten Welt, die inzwischen die alle Könige, Fürsten und Kirchenherrscher und die Welt der absoluten Obrigkeiten erschütternde Französische Revolution erlebt hatte, waren schon durch den prächtigen Pastor Braess in Dettum seit 1786 mit seiner „Roten Zeitung für die lieben Landleute” ins Dorf gelangt. Sie war der Ursprung des späteren „Wolfenbüttler Kreisblatts” und der noch heute als älteste Zeitung unseres Landes bestehenden „Wolfenbütteler Zeitung“. Dem Dettumer Pastor war es ernsthaft um Aufklärung seiner lieben Landsleute über Aberglauben, Kurpfuscherei und Unwissenheit in naturwissenschaftlichen Dingen zu tun. Es war die Zeit des „Wandsbeker Boten“ Matthias Claudius oder des alemannischen „Rheinischen Hausfreunds“ Joh. Peter Hebel, die freilich beide mit ihren Zeitungen ungleich bedeutender waren und blieben, als unser bescheidener Dorfpastor.

 Wer im einzelnen erfahren will, wie Sitte und Brauchtum in unseren Braunschweigischen Dörfern bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, und also auch in Weferlingen lebendig. Waren, lese darüber in der 1896 zuerst erschienenen, danach mehrfach aufgelegten „Braunschweiger Volkskunde” von Prof. Richard Andree nach, die ein unvergängliches Denkmal für die nun geschwundene dörfliche Eigenart unserer Heimat ist. Bemerkenswerte Ereignisse aus dem Jahrhundert seit 1850 lassen sich mangels eines jeweils notierenden Chronisten kaum anführen.

 1855 wütete in allen Dörfern die aus Asien gekommene Cholera und forderte auch in Weferlingen mehrere Todesopfer.

 1874 am 7. Dezember äscherte ein Großfeuer das Stallgebäude des Hofes Nr. 5 ein und bedrohte den unmittelbar daran grenzenden Hof Nr. 3. Bei dem herrschenden Wind glaubten mit der Eisenbahn vorbeifahrende Reisende, daß das ganze Dorf verloren sei. Nach einem Bericht in den „Braunschweigischen Nachrichten“ Nr. 292 haben sich bei der Brandbekämpfung besonders die Mönche-Vahlberger und Schöppenstedter Feuerwehr ausgezeichnet, wodurch der Barnstorf‘sche Hof gerettet werden konnte. 16 Spritzen und Wasserwagen waren bei diesem dörflichen Unglück erschienen.

 Verkehrsunfälle wie heute gab es damals und noch bis in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg in der Umgebung unseres Dorfes nicht. Die ersten Motorräder und „Automobile“ tauchten nach meiner Erinnerung auf den holprigen Straßen des an keiner „Chaussee erster Ordnung“ liegenden Dörfchens erst um 1905 auf. Welche Marken es waren, vermag ich freilich nicht mehr zu sagen. Manchmal überflog auch ein Luftballon, in dem vielleicht mein Sippenverwandter, der Ackermann und frühere Major Hugo Barnstorf aus Groß-Biewende in der Gondel saß, weil er ein begeisterter Freiballonfahrer war, lautlos die Dächer.  1912 erregte das lenkbare Zeppelin-Luftschiff „Hansa” mit dem Dröhnen seiner Motoren die Bewunderung der Dorfleute. Wann der erste Aeroplan, so nannte man zunächst die Flugzeuge, über das Dorf brummte, weiß ich nicht anzugeben. Es kann kaum früher als 1912 gewesen sein, als ein französischer Flieger Pegoud auf dem Großen Exerzierplatz bei Braunschweig Kunststücke sogar im Rückenfliegen vorführte.

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 Abb. 12 Am Mühlgraben hinter der Mühle (um 1935) Privatfoto

 Viel mehr Bedeutung für das Dorfleben aber hatte die Einführung des elektrischen Lichts im Mai 1914. Zwar brannten zunächst bei manchen Leuten die falsch eingekauften Birnen durch, aber nun war die zivilisatorische Erleuchtung der Dörfler endlich vollkommen. So meinte man damals. Und 10 Jahre später kam die neueste Erfindung der Elektronik, der Rundfunk, in einige Häuser des Dorfes, dem nach dem Ende des 2. Weltkrieges und dem Beginn des Wirtschaftswunders dann als Sohn und Erbe das Fernsehen folgen sollte.

Wer von der jungen Mannschaft des Dorfes Weferlingen, die unsere Hoffnung für die Zukunft ist, kann sich vorstellen, wie die heute 60-Jährigen die rasende Entwicklung der Lebensumstände seit 1900 erlebt haben? Was für sie selbstverständlich ist, mußten ihre Großväter jeweils erst einmal „verdauen“ und dabei gab es wohl auch Magengrimmen. Auch aus unserem Dorf wurde etwas anderes als das, was wir in der Erinnerung haben.

Die Zeitmarke, seit der alles anders wurde, war jener heiße Sommertag des 1. August 1914, als am Torweg des Großen Hofes die roten Plakate der Mobilmachung und Einberufung angeklebt wurden, die schon lange für den Tag X im Gemeinde-Panzerschrank versiegelt gelegen hatten und nun von meinem Vater, dem Gemeindevorsteher, ausgehängt werden mußten. Es begann der erste Weltkrieg und die große Wandlung der Weit. Sieben Söhne Weferlingens erlitten in diesem ersten Krieg, der die ganze Welt verstörte, den Tod als Kämpfer für ihr Vaterland.

Es waren: Otto Wegener, Hermann Friedrichs, Gustav Wunderling, Otto Schultze, Hermann Weilbier, Friedrich Schulz und Karl Brandes.

Das 20. Jahrhundert, als das des wissenschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritts seit Beginn gefeiert, hatte dem kleinen Dorf aber noch Schlimmeres vorbehalten. Ein Frieden, der keiner war, gebar in Verwirrungen und Wahn den zweiten Weltkrieg nach trügerischen Versuchen vergeblicher Erneuerung dörflichen und bäuerlichen Brauchtums, die manchen Dorfbürtigen zunächst anzogen.

Der 2. Weltkrieg, noch grauenvoller als der erste, forderte als Opfer aus dem kleinen Dorf von kaum 200 Einwohnern: 11 gefallene und 3 vermißte, nie wiederkehrende So!daten und dazu 5 wehrlose Zivilisten.

Frauen und Kinder stehen nun mit den Soldaten auf dem Ehrenmal neben der Kirche, das 1952 geweiht wurde, gemeinsam verzeichnet.

Der schwärzeste Tag der 1000jährigen Geschichte des Dorfes war jener sonnige Frühlingstag, der 15. März 1944, als um Mittag in einem sinnlosen Abwurf die Bomben herniederrauschten auf Dorf und Feldmark. Außer der alten Kirche zerstörten sie das Wohnhaus Nr. 10, Nr. 2 und Nr. 16, außerdem 2 Scheunen und rissen in der Burgstelle und rings um das Dorf etwa 25 Krater auf.

Aber das furchtbarste Ergebnis dieser Sinnlosigkeit, die wir nie begreifen werden, war, daß dabei zwei Kinder: Elisabeth Rahl und Monika Wengorzewski aus Braunschweig, die in das Dorf zum Schutz vor den Bombenangriffen evakuiert war, sowie mein Schulkamerad Heinrich Maikowsky auf der Treppe und im Keller des Hauses Nr. 16 ihr Leben verlieren mußten.

Nun stehen ihre Namen zusammen mit denen von Lotte Friedrichs und Luzie Nagel, die an anderen Orten durch den Bombenkrieg dahingerafft wurden, neben den Namen derer, die als Soldaten ihr Leben gaben: Franz Kryscak (1939), Heinz Bormann (1942), Rudi Maikowsky (1942), Otto Backhaus (1943), Wilhelm Weste, Heinz Miehe, Willi Schulze (alle 1944), Willi Diekmann und Hermann Höltge (1945). Dazu kommen die Vermißten die nie wiederkehren werden: Walter Schulz, Helmut Wallstab und Paul Teufel.

Der furchtbare Krieg, der sie uns nahm, brachte dann den endlosen Zug des Elends, das er verursachte, auch in unser Dorf. Aus Schlesien, Ostpreußen und Pommern kamen die, die ihre Heimat, ihre Habe und oft auch ihre Lieben lassen mußten, nach Weferlingen und haben hier vielfach nach schweren Jahren des Neubeginns eine neue Heimstätte gefunden. Ihnen gilt auch das Anliegen dieser Schrift, aus der sie etwas über Ursprung und Geschichte ihres jetzigen Wohnortes erfahren können. Etwa 180 bis 200 Menschen fanden 1946 in Weferlingen wenigstens zeitweilig Unterkunft, oft dürftig genug. Nur etwa 50 davon leben auch heute noch hier, aber ihre Kinder sind vielfach schon im Dorf geboren und mit Altenauwasser getauft. Sie alle sind Weferlinger geworden und haben damit 1500 Jahre nach der ersten Völkerwanderung und 20 Jahre nach der zweiten unserem alten Dorf eine neue Bevölkerung gebracht.

Diese 20 Jahre haben aber auch sonst Vieles erstehen lassen, was dieses Dorf mit technischen Verbesserungen in das neue Zeitalter hineinwachsen ließ.

1952 wurde eine den Schmutz der Dorfstraßen verringernde Abwasserkanalisation angelegt, der ein Jahr später die Erneuerung der Dorfstraßen durch Teerdecken folgte. Sie ist 1963/64 durch den Bau von Fußwegen und weiteren Ausbau der Straßen fortgesetzt.

Nachdem 1964 der Spielplatz für die Kinder auf dem schon seit jeher so genannten Teil des Schulgrundstücks mit schönen Anpflanzungen und Spielgeräten hergerichtet war, hat seitdem die Anlage von ziergartenartigen Anlagen mit Sträuchern und Rasen vor Hof Nr. 3 und im früheren Garten von Nr. 5 dem Dorf eine besonders freundliche Note egeben, die erst dem richtig und sinnvoll auffällt, der alte Verwahrlosung als Sohn des Dorfes bitter beklagen mußte. Die öffentliche Anerkennung blieb nicht aus: 1964 wurde der Gemeinde Weferlingen der 2. Preis im Wettbewerb des Landkreises Wolfenbüttel „Das schöne Dorf” zuerkannt.

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 Abb. 13 a Gastwirtschaft Nr. 9 (Nach einer Postkarte von 1920)

Die verdienstvollste Tat der Gemeindeund Kreisverwaltung ist jedoch der Bau einer zentralen . Wasserversorgungsanlage, der nach längeren Vorplanungen im Herbst 1959 fertig war und nun endlich die Haushaltungen von den drei öffentlichen „Schuckebrunnen“ aus denen man früher mit „Schanne” und Eimern Wasser holte, unabhängig machte.

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 Abb. 13b Lehrerwohnhaus (Nach einer Postkarte von 1920)

Soziologisch ist vom heutigen Dorf noch zu sagen, daß es im Trend des jetzigen Arbeitsmarktes bisher von ausländischen Gastarbeitern frei blieb. Bezeichnend für die Struktur des Ortes ist aber, daß 40 Männer und Frauen (also fast ein Viertel der Einwohner) eine Arbeitsund Erwerbstätigkeit außerhalb des Dorfes haben. Dorf als Vorort, damit ist ein Schicksalsproblem des Verhältnisses von Land und Stadt schlagworthaft bezeichnet.

Wieweit sich auch die Zusammensetzung der Bewohnerschaft nach Altersjahrgängen dem Überalterungsprozeß, dem Mitteleuropa mit allen Konsequenzen ausgeliefert zu sein scheint, einfügt, war noch nicht zu ermitteln.

Die älteste Einwohnerin unseres Dorfes, die darin seit 1900 lebt, ist die Altenteilerin Meta Barnstorf geb. Wolff (geb. 13. 6. 1877 in Dettum), die jüngste aber ist jetzt (im Juli 1965) die am 8. 4. 1965 geborene Carolin Friedrichs. Es sind fast 90 Jahre, die die beiden Geburtsdaten trennen. Es ist unwahrscheinlich, daß die kleine Carolin soviel umstürzende Veränderungen der Wirtschaft, Politik und Technik erleben wird, wie sie meine alte Mutter staunend und manchmal kopfschüttelnd über das Dorf hinwegziehen sah. Ob sie immer ein Fortschritt waren, muß dahingestellt bleiben.

Der Weg durch 1000 Jahre der Geschichte eines kleinen Dorfes ist in unserer Gegenwart angelangt. Er darf nicht an den Namen derer vorbeigehen, die nach den Gemeindeakten in den letzten Jahrzehnten in demokratischer Pflicht und Verantwortung die Geschicke des Dorfes mitbestimmten. Aus früheren Zeiten fehlen uns diese Namen zumeist. Sie sollen auch hier nur für die Nachkommen festgehalten werden, damit diese in gleicher Bereitschaft einen Teil ihrer Tagesarbeit dem Wohl der Gemeinde, und das ist auch heute noch eine „Menne”, eine gemeinsame Lebensform eines Dorfes, zu widmen, bereit sein möchten.

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Abb. 14 Alte Hofscheune mit Balkengalerie (abgerissen um 1960) (Privatfoto)

Als Gemeindevorsteher (heute Bürgermeister) wirkten im Dorf außer den im obigen Text Erwähnten: Vor 1898 der Ackermann Andreas Moshake (Hof Nr. 1), von 1898 bis 1924 Ackermann Willi Barnstorf (Hof Nr. 3), 1924 bis 1930 Ackermann Otto Moshake (Hof Nr. N). Ihm folgte der seit etwa 1920 bei Willi Barnstorf als Buchhalter beschäftigte Herr Wilhelm Meyer von 1930 bis 1944. Er war es, der schon 1936 dem Verfasser den Auftrag zur Abfassung einer Dorfgeschichte gab, die dann durch Krieg und Nachkriegszeit nicht verwirklicht werden konnte. Ihm folgte seit seinem Tode Herr Wilhelm Blöhbaum (Hof Nr. 8) von 1944 bis 1948, dann Herr Helmut Hermann (16. 12. 1948 bis 9. 12. 1949). Seit 9. 12. 1949 ist Herr Wilhelm Isenberg Bürgermeister.

Nach der vom englischen Verwaltungsrecht bestimmten Gemeindeordnung stehen den Bürgermeistern Verwaltungsbeamte, als Gemeindedirektoren bezeichnet, zur Seite. Dies war in Weferlingen von 1949 bis 1953 Hermann Wrede, seit 1953 Herr Kurt Voges, der dieses Amt auch jetzt noch innehat.

Als ein wichtiges Ereignis in der Verwaltungsgeschichte Weferlingens muß zum Schluß noch verzeichnet werden, daß das Dorf zusammen mit Dettum, Eilum, Gilzum, Hachum, Mönche-Vahlberg und Volzum zur Samtgemeinde Dettum gehört, die 1964 ihre Arbeit aufgenommen hat. Von der Vereinzelung mit all ihren Gefahren zurück zur Interessengemeinschaft, ein Weg, der nach tausend Jahren Dorfgeschichte nur als hoffnungsvoll bezeichnet werden kann.