Addendum 1

Dieser Brief zusammen mit dem drei Jahre später von Wilhelm und Helene Utermöhlen an Fritz und Lisa Barnstorf verfaßten (= Addendum 2) sowie einer Reihe von teils beschrifteten, teils unbeschrifteten Pho­tos (s. Anm. 6) in einem neueren braunen DIN-A5-Umschlag aufbewahrt. Liniertes Leinenpapier von et­was dickerer Qualität als Addendum 2; die Hschr. lateinisch.

Heimgarten, d. 23. Nov. 32

  Liebe Lisa!

Aus Deinem lieben Briefe vom 24. Okt. ersehe ich, daß Dir der Inhalt meines Paketes große Freude bereitet hat, besonders auch die beiden Tagebücher von meinem Vater. Ich habe sie auch kurz vorher mit vieler Rührung gelesen, besonders die Briefe, die er damals an meine liebe Mutter Lisette geschrieben hat.1 Dabei mußte ich daran denken, mit welchem Vergnügen ich immer als Junge in Ohrum2 die Briefe von meiner Mutter gelesen habe, welche sie während ihrer Brautzeit an Vater geschrieben hat. Ich habe dieselben nach seinem Tode nicht mehr vorgefunden. Er wird sie jedenfalls verbrannt haben. Bei den Briefen lag auch ein solcher von Großvater Ludwig U. aus Bonafort,3 in welchem er Vater u. Mutter {im Jahre 1861} zur Geburt ihres ersten Buben4 voller Freude Glück wünscht u. zugleich den Wunsch ausspricht, daß einmal etwas Rechtes aus ihm werden möge. Dieser Brief hat damals auf mich Buben beim Lesen solchen Eindruck gemacht, daß ich mir fest vornahm, danach zu streben, daß der Wunsch meines Großvaters Ludwig in Erfüllung ginge. Schade, daß Ihr Kinder meine Mutter Lisette nicht mehr kennengelernt habt. Sie war eine liebe, se{e}lengute Frau. Sie war immer freundlich u. fröhlich u. ihr Angesicht strahlte förmlich von Güte u. Liebe. Alle Leute in Ohrum hatten sie gern │ u. viele holten sich bei ihr Trost, wenn sie in Nöten waren. Sie hatte eine schöne Stimme u. sang sehr gern. Sie sang sehr gern in der Dämmerstunde u. sobald ich einigermaßen spielen konnte, habe ich ihren Gesang auf dem Klavier begleitet. Noch jetzt spiele ich alle diese Lieder gern5 u. denke dann dabei an mein gutes Mütterlein u. die schöne Jugendzeit zurück.

 Die beiden Tagebücher von meinem Vater Georg will ich Euch gern überlassen. Da ich nur Töchter mein eigen nenne, so ist es auch besser, {wenn} Ihr Kinder dieselben aufbewahrt. Das Familienbild u. das Bild vom Großvater Ludwig u. Großmutter Dorette6 möchte ich gern wieder zurückhaben.7 Es eilt natürlich nicht.

 Onkel Wilhelm, Tante Helene u. Frida8 war{en} in den letzten drei Wochen in Wiesbaden bei 26 Frau Bertha Siegwald. Sie haben fast jeden Tag dort Bäder genommen.9 Bei Gustav Utermöhlen10 waren sie natürlich auch öfter. Seine Tochter Elle11 war im Sept. während ihrer Ferienzeit bei uns in Heimgarten. Sie hat sich hier ordentlich erholt.

 Das liebe Weihnachtsfest rückt nun immer näher, da heißt es allmählich mit den Vorbereitungen beginnen. Ihr Kinder werdet dann wohl alle in Weferlingen bei der lieben Mutter12 unter dem Weihnachtsbaum versammelt sein u. Euch schon jetzt auf das fröhliche Fest freuen. Alle Heimgärtner senden Dir u. allen Deinen lieben Angehörigen die herzlichsten Grüße.

Dein getreuer Onkel

K. Utermöhlen.

Anmerkungen

1 Karl (11.5.1861-?) war das vierte Kind von Lisette Christine Wilhelmine Hettenhausen (1.7.1832-21.8.1900) und Georg Utermöhlen (18.8.1831-30.5.1920) und zusammen mit seinen Eltern nach Heimgarten ausgewandert; vgl. Einleitung. Lt. Maria Kern-Hauser: Herrschaftliche Häuser, in: Bülacher Neujahrsbl. 1993, ebd. (Einl./Anm. 9), S. 48b, zog Karl zu Beginn des Zweiten Weltkrieges aus der Schweiz zurück nach Deutschland.

2 Karls Vater Georg war vor seiner Auswanderung in die Schweiz, wo er eine Obstplantage bewirtschaftete, eine Zeitlang Lehrer in Ohrum, Kreis Wolfenbüttel (sowie zuvor in Heißum, Ldkr. Goslar), gewesen. Von Heißum, wo sein siebentes Kind Hermann Mitte Februar 1868 zur Welt kam, muß er vor oder im Januar 1871 nach Ohrum gewechselt sein, wo am 20.1. die Geburt seines achten und letzten Kindes Wilhelm aktenkundig wurde.

3 Ludwig Utermöhlen (21.1.1804-21.4.1869), gebürtig aus dem ziemlich genau zwischen Göttingen und Hannoversch Münden gelegenen Jühnde, war Lehrer in Bonaforth (so die heutige Schreibung), wo er auch starb. Bonaforth, seit 1973 Ortsteil von Hannoversch Münden, liegt am Nordhang des Kaufunger Waldes rechts der Fulda.

4 d.h. des Briefschreibers selbst, dessen ältere drei Geschwister allesamt Mädchen waren.

5 Nach dem Bericht Kern-Hausers, a.O. (Anm. 1), stand in Karl Utermöhlens Heimgartener Wohnzimmer eine Hausorgel, auf der er «sehr oft zusammen mit seiner Tochter Frieda» musizierte.

6 Karls Großmutter Dorette Utermöhlen, geb. Schmidt (30.1.1811-7.5.1870), Frau von Ludwig Utermöhlen (zu ihm s. Anm. 3).

7  Der Brief ist mit fünf Photos auf uns gekommen: 1. einer unbeschrifteten kleinformatigen Aufnahme von – vermutlich – Karls Eltern Georg und Lisette, die laut Auskunft der Rückseite von Photo Nr. 2 aus dem Jahre 1866 stammt («Kleines Bild aufgenommen 1866 in Heißum Großvater 35J, Großmutter 34»), als die beiden 35 bzw. 34 Jahre alt waren (vgl. o. Anm. 1), wobei die Handschrift, in der das vermerkt ist, nicht Karl gehört, sondern mutmaßlich – da das abgebildete Paar als «Großeltern» bezeichnet wird – jemandem aus der Generation von Käthe und Lisa Utermöhlen; vielleicht Lisas Ehemann Fritz Barnstorf, dem Familienhistoriker; 2. dem von Karl Z. 23 so genannten Familienbild aus dem Jahre 1875, das seine Eltern Georg und Lisette inmitten ihrer siebenköpfigen Kinderschar zeigt (laut Umschrift v.l.n.r.: «Hermann, Albert, Mutter Lisette, Ida, Vater Georg, Karl, Minna, Dina, Wilhelm», «das Bild wurde 1875 aufgen.») und von dem es noch einen weiteren Abzug gibt (das achte Kind, d.h. das in der Reihenfolge der Geburten eigentlich dritte, war die bereits am 16.8.1861 kaum mehr als anderthalbjährig verstorbene Bertha); 3. einer der «Familie Hermann Utermöhlen in Weferlingen» zugedachten Ansichtskarte des Bülacher Photographen R. Freudiger, die Karls und Hermanns Vater Georg am 20. September 1916 in seinem 85. Lebensjahre im Sonntagsstaat inmitten der Heimgartener Landschaft stehend zeigt; 4. einer Aufnahme von (laut Beschriftung auf der Rückseite in des Briefschreibers eigener Hand) Karl im 71. Lebensjahr («K. Utermöhlen 71 Jahre alt.») – also aus demselben Jahr, aus dem der Brief datiert –, im Anzug, vor der von zwei Fenstern eingerahmten Haustür seines Heimgartener Domizils Haus Bergheim, die Rechte auf die Türklinke gelegt, als wollte er soeben öffnen und eintreten; und 5. einer aus ungefähr derselben Zeit stammenden Aufnahme einiger Heimgartener Utermöhlens, die sich vor ebendem Haus Bergheim um einen Gartentisch versammelt haben: auf der linken Seite sitzend vermutlich Wilhelm, Karls um zehn Jahre jüngerer Bruder, neben ihm eine ebenfalls bereits weißhaarige, mütterliche Frau mit Kneifer, wohl seine Frau Helene, beide Alten mit einem kleinen Kind (Enkel bzw. Urenkel?) auf dem Schoß, rechts außen am Tisch, frontal dem Photographen zugewandt, Karl, links neben ihm, das Fenster im Rücken, eine deutlich jüngere Frau, möglicherweise eine seiner beiden Töchter; hinter ihr und Karl in der offenen Haustür stehend ein Paar, wobei die Frau der neben Karl sitzenden ähnelt; eventuell also stehend seine Tochter Erika mit ihrem zweiten Mann Oskar Staege, mit dem sie sich 1925 verlobt hatte (Brief 18, Z. 18 mit Anm.) – die beiden auf den Schößen der Alten hockenden Kinder könnten dann freilich nicht die ihren sein, weil Erika zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits fünfzig Jahre alt gewesen wäre – und sitzend Erikas jüngere Schwester Frieda. Die von fremder Hand stammende Beschriftung auf der Rückseite dieses Photos weist zwar die linke Seite Karl und Maria und die rechte Helene und Wilhelm zu, doch ergibt der Vergleich mit Aufnahme Nr. 4 eindeutig, daß Karl der rechts Sitzende sein muß. Zudem springt sowohl der zwischen den beiden Brüdern bestehende große Altersunterschied als auch der Generationenunterschied zwischen den beiden sitzenden Frauen ins Auge, von denen die Ältere wiederum deswegen nicht Maria gewesen sein kann, weil diese schon 1923 verstorben war; s. Brief 8, Z. 52. – Zu Haus Bergheim findet sich in Bülacher Neujahrsbl. 1993, a.O. (Anm. 1), S. 48a-c. 51f., nebst zwei Außenaufnahmen sowie einem Abdruck unseres privaten Photos Nr. 5 (für das keine Rechte nachgewiesen werden) eine interessante Beschreibung. – Das Z. 23 erwähnte «Bild vom Großvater Ludwig u. Großmutter Dorette» befindet sich nicht unter den Photos, wohl weil es wunschgemäß retourniert worden ist. Dafür, daß es der Sendung beilag, spricht, daß die Geburtsdaten dieser Stammeltern, zusammen mit den Angaben zu Photo Nr. 1, in einer kleinen Ecke auf der Rückseite von Nr. 2 notiert worden sind. Dieser Nr. 2, dem «Familienbild», kommt möglicherweise eine besondere Bedeutung zu: 1875 aufgenommen, im Jahr der Inkraftsetzung des gesetzlichen Impfzwanges, der die Auswanderung motivierte, könnte es das letzte gemeinsame Porträt der Utermöhlens vor dem Aufbruch der Eltern mit vieren der Kinder nach der Schweiz sein (s. Einl.). Auch dieses Bild dürfte nach Herstellung der beiden Abzüge an den Leihgeber zurückgegangen sein. Ob die übrigen vier, im Brief nicht erwähnten Aufnahmen ebenfalls mit ihm oder aber auf anderen Wegen an die Adressaten gelangt und erst später hier eingeordnet worden sind, läßt sich nicht mit letzter Sicherheit entscheiden. Zumindest Nr. 4 und 5, die aus derselben Zeit wie der Brief stammen, gehören sehr wahrscheinlich zu ihm.

8 Mglw. Karls zweite Tochter Frieda (so die Schreibung in der Stammliste der Familie, zu welcher s. Einl.), die wohl ein enges Verhältnis zu seinem Bruder Wilhelm und seiner Schwägerin Helene hatte, nach deren Tod sie am 13.5.1944 als Universalerbin in ihren Besitz eintrat; vgl. Kern-Hauser, a.O. (Anm. 1), S. 48a, sowie Beilage ‹Besitzesverhältnisse› zum Bülacher Neujahrsbl. 1993.

9  Wiesbaden ist eines der ältesten Kurbäder Europas, berühmt für seine vielen, bereits den Römern bekannten, nachweislich sogar schon in der Steinzeit genutzten kochsalzhaltigen Thermalquellen mit Temperaturen zwischen 46°C und 66°C, die vor allem bei der Behandlung von rheumatischen und Atemwegserkrankungen Einsatz finden (Bade‑, Schwimm- und Trinkkuren). Seit Mitte des 19. Jh. nannte sich die Stadt, die eine unablässig steigende Zahl internationaler Kurgäste anzog (1936 waren es 130.000, fast so viele, wie sie Einwohner hatte), deshalb ‹Weltkurstadt›. Neben den öffentlichen Thermalbädern gibt und gab es auch immer private Badehäuser und Hotels mit eigener Thermalquelle, von denen die Z. 26 erwähnte Frau Bertha Siegwald eines betrieben haben mag.

10  Gustav Utermöhlen (21.5.1870-?) entstammte der zweiten Ehe des Julius Utermöhlen (5.9.1841-6.3.1894), eines jüngeren Bruders von Georg Utermöhlen, dem Vater des Briefschreibers (s. Anm. 1), mit Lisette Schäfer (22.8.1850-6.1.1893). Gustav war somit ein Cousin von Karl. Er wirkte als Kapellmeister in Wiesbaden, möglicherweise im Kurbetrieb.

11 Lt. ‹Stammliste› Ella Marie (12.9.1901-?). Ihre ältere Schwester Gertrud (6.10.1896-?) entstammte dem gleichen Jahrgang wie Käthe Utermöhlen und ■Friedel Kürschner.

12 Gemeint ist vermutlich die Mutter von Lisa, ■die möglicherweise nach wie vor in Weferlingen lebte, wo ihr Mann bereits 1920 verstorben war.