Brief, hschr., schwarze Tinte auf vier beidseitig beschriebenen Blättern desselben Papiers wie Brief 21; der rechte Rand der unteren Hälfte des ersten Blattes leicht eingerollt und eingerissen. Dazu eine mit identischem Ort und Datum versehene Handzeichnung Friedels auf einem Blatt desselben Papiers (s. Z. 45 mit Anm.), dieses linksseitig mit drei kleinen Einrissen. Kein Umschlag.
Corire (Majes) via Arequipa, Peru,
den 24. Febr. 1931.
Meine liebe Käthe!
Du hast mir solch einen schönen Kalender geschickt, daß ich garnicht weiß wie ich Dir danken soll. Das war wirklich ein recht liebes Christkind. Du schreibst darauf, damit ich nicht vergeße wie schön die Heimat ist. Vergeßen werd ich das allerdings nicht, das wäre wohl schwer, denn <gegen> die Schönheit die es drüben gibt, ist dies alles nichts. Und wenn ich eben immer hier bin, so sind daran eben die Verhältniße schuld. Oft kommt etwas dazwischen und man sieht daß man noch nicht soweit ist wie man sich dachte es zu sein. Andererseits gehe ich mit leeren Händen nicht nach Europa zurück; wenn ich etwas finde, wobei │ man auch vom Leben etwas mehr haben könnte, dann würde ich nicht zögern, dorthin zu gehen; denn abseits und allzu1 sehr in der Einsamkeit zu leben das ist recht für einige Zeit.2
3Ich wollte mich auch verändern und werde es tun, sobald es geht. Bei der zurzeit [sic] herrschenden Krise ist es etwas schwerer sich zu bewegen und das ist wohl der Grund daß ich heute noch hier bin.4
16 In den Heimgarten hätte ich ja früher auch immer zurück sollen und das wäre dort sicher sehr nett geworden; denn abgesehen von vielem andern, liegt doch der Heimgarten wunderschön. Aber damals konnte ich mich mit Onkel hierüber nicht so gut ver= ║II.║ 19 ständigen.5 Wenn ich im Heimgarten geblieben wäre, dann hätte ich auch beim Militär weiter machen wollen, und das wäre alles sehr gut zusammen gegangen, aber als ich dieserhalb ganz im Anfang noch etwas verlauten lies [sic] da bin ich auf einigen Widerstand gestoßen.6 Ich fand, daß man junge Leute, wenn es sich um gesunde und fördernde Ideen handelt, unterstützen7 23 sollte. Aber viele verstehen das nicht, daß jedem Alter sein Recht gehört. Und damit hat das sein 22 Ende gefunden. Später, als verlorener Sohn zurück zu kehren, das liegt mir mal nicht. 24 Wenn auch nun das Leben unruhvoller8 wird, da ist nichts daran zu ändern. 25 Ich bin auch alt genug um bald9 │ ans Heiraten denken zu sollen und doch hat man eben noch nicht daran denken können.10 27 Ich bin dreiunddreißig und im Mai wird’s eins mehr.11
Und da ist gerade auch unterm Monat Mai in Deinem so schönen Kalender ein ganz netter Spruch:
„Immer hin und wieder
strebt der Blütenzweig im Winde,
immer auf und nieder
strebt mein Herz gleich einem Kinde
zwischen hellen, dunklen Tagen
zwischen Wollen12 und Entsagen.
Bis die Blüten sind verweht
und der Zweig in Früchten steht,
bis das Herz, der Kindheit satt,
seine Ruhe hat
Und bekennt: voll Lust und nicht verge{bens}
41 war das unruhvolle Spiel des Lebens.“13
————
Mit der kleinen Skizze aus meinem letzten Briefe,14 findest ║III.║ Du Dich nun hier in unserer Umgebung etwas besser zurecht15 und für meine tägliche allernächste Welt lege ich Dir heute auch eine kleine Skizze bei.16 – Die Films [sic] von unserer letzten Tour hatte ich nach Arequipa gesandt zum Entwickeln und bis zum nächsten Briefe kann ich Dir welche beilegen.
Kurz nach Neujahr fuhr ich mit Herrn und Frau Gnamm aus San Vicente17 nach 48 Arequipa und von dort gleich weiter nach Yura; das ist die nächste Station, wenn man von 49 Arequipa aufwärts fahrt18 und blos 29 km weit.
50 Yura ist ein berühmtes Schwefel- und Eisenbad mit warmen Quellen.19 Da ich kurz 51 vorher wieder einigemale mit Malariafieber zu tun hatte und recht mager │ wurde, so wollte ich einige Eisenbäder 52 nehmen.20
Ca. drei Wochen waren wir dort und es war recht schön d.h. es hat uns gut getan.
Auf dem Rückweg blieb ich noch acht Tage in Arequipa und seit fast vierzehn Tagen bin ich wieder in Maran Grande. Das nächstemal fahre ich wohl im September oder October [sic] wieder nach Arequipa; denn bis dorthin werde ich bei den jetzigen Umständen wohl noch nicht fort sein von hier.
Tante und Onkel aus dem Heimgarten schrieben auch einen längeren Brief und werden 59 wohl zurzeit [sic] noch auf ihrer Deutschlandsreise [sic] sein.21 Onkel Wilhelm macht ja zur Zeit sehr interessante Anbau- und Düngungsversuche.22
║IV.║ 61 Seit Sonntag fand hier wieder eine kleinere Gegenrevolution statt, welche die provisorische neue Regierung wieder absetzen will. Man weiß noch nicht wie es ablaufen wird, da bis heute noch keine sicheren Notizen23 vorliegen.24
Die ganze Welt scheint sich etwas auf den Kopf gestellt zu haben und überall fast sieht es gleich schlecht aus.
Der Geldkurs ist hier bereits auf mehr als die Hälfte gesunken. Eine der größten Banken hat ihre Türen schließen müßen25 und der Handel ist vollkommen ruhig.
Deutschland geht ja zurzeit auch wieder in Parteiidealen26 auf.27
So eine allgemeine Weltkrise fand doch bis {zur heutigen}28 noch nie │ statt.
70 Übrigens von Tante und Onkel erhielt ich bereits von29 ihrer Reise einen Kartengruß aus dem Lindenhof bei < >30.
Bald werde ich Dir also einige Fotos beilegen können und sende Dir bis dahin viele und herzliche Grüße .31 Dein
Friedel.
1 Folgt durchgestrichener Buchstabe als Wortanfang (evtl. ‘z’).
2 Gemeint ist wohl: «das ist recht nur für einige Zeit», d.h. nicht für länger, wie es etwa in Heimgarten der Fall wäre (s. z.B. Brief 13, Z. 70-72).
3 Ab hier kleinere Einzüge sic.
4 Zu den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in Peru und angrenzenden Staaten s. Brief 23/Anm.en 24f. 28. 30.
5 Da scheint sich durch den zeitlichen Abstand und vielleicht auch die aktuellen Wirtschaftsprobleme Perus einiges bei Friedel verklärt zu haben, das in früheren Briefen weit kritischer oder zumindest nüchterner gegen Heimgarten (Brief 3/Anm. 13 mit weiteren Verweisen) und das Ansinnen, dorthin zurückzukehren, klang: Briefe 13, Z. 52ff. 66ff. 119-123; 14, Z. 10-12. 16-29; 16, Z. 10-28; 17, Z. 20f.; 18, Z. 19-23.
6 Über diesen Gesichtspunkt findet sich in Friedels bisherigen Äußerungen zum Thema ‘Rückkehr nach Heimgarten’ kein Wort; ausschließlich Fragen des Geldes (Schuldentilgung, Verdienstmöglichkeiten), des Lebensalters und der Lebensqualität hüben vs. drüben wurden ventiliert; s. Verweise in vorausgehender Anm. Das folgende (Z. 22-24) liest sich dann geradezu so, als wäre die Frage der Vereinbarkeit einer Rückkehr mit dem Militärdienst nicht nur eine unter anderen, sondern die einzig strittige und sodann ausschlaggebende gewesen. – Unwillkürlich fragt man sich hier auch, wie die anklingende Sympathie fürs Militär sich mit dem Pazifismus von Friedels Vater (s. Einleitung) vertragen haben mag?
7 Das erste ‘e’ aus einem anderen Buchstaben korrigiert und daher recht groß geraten.
8 Wie das Wort, so die Schrift: das ‘n’ nachträglich verstärkt gegen zu frühen ‘r’-Ansatz; die letzten beiden Buchstaben durch von der Rückseite her stark durchscheinendes, voll ausgefülltes ‘a’ zu undurchdringlichem Klecks verknäult. – Dieses für Friedel ungewöhnliche Wort gewiß inspiriert durch das anschließende Gedicht (s. Z. 41).
9 Folgt durchgestrichen das Wort «eine».
10 Damit klärt sich der durch Friedels Gebrauch des Personalpronomens «wir» in den vorausgegangenen Briefen gesäte Zweifel (Brief 22, Z. 36 mit Anm. und weiteren Verweisen).
11 Diese Mitteilung, so willkommen die (hier erstmalige) Nennung von Friedels Geburtsmonat ist, steht in etwas verwirrendem Verhältnis zu der in Brief 13 vom 22. November 1924, Z. 94-99, angestellten Rechnung, wonach der Briefschreiber «etwa sieben Jahre» später, mithin im November 1931, fünfunddreißig Jahre alt wäre und «nach 15 Jahren», im November 1939, dreiundvierzig. Während jene – in sich immerhin stimmigen – Auskünfte den Rückschluß auf 1896 als Geburtsjahr nahelegten (s. a. Brief 1/Anm. 2), muß man aufgrund der hiesigen Stelle von 1897 ausgehen. Brief ■■ präzisiert den Geburtstag weiter als 11. Mai.
12 Liest sich wie «Wollken» – evtl. dachte Friedel beim Abschreiben unwillkürlich an Wolken.
13 Das Gedicht heißt ‹Der Blütenzweig› und stammt von Hermann Hesse (1913). Ein Fehler hat sich in Friedels Abschrift eingeschlichen: in der ersten Gedichtzeile (unserer Z. 30) muß es heißen «hin und wider» – gemeint ist ja ‘hin und her’, nicht ‘zuweilen, ab und zu’, was tatsächlich ein ‘ie’ erheischen würde. Vielleicht stand dieser Fehler auch schon im Kalender.
14 Komma sic.
16 Die phantastische, ungeheuer sauber, anschaulich und exakt ausgeführte Zeichnung, die jedem Architekten zur Ehre gereichen würde, stellt gemäß ihrem im unteren Blattviertel (wo ganz rechts unten auch das Datum «24. Februar 1931» vermerkt ist) in Versalien angebrachten Titel eine «Skizze zum Wohnhaus in Maran Grande.» dar. Das obere Blattdrittel nimmt ein Aufriß des Hauses (in schwarzer Tinte) ein, dem mittels rotgestrichelter Linien die Trakte und Zimmer des Hauses im darunter angebrachten Grundriß (ebenfalls schwarze Tinte, mit Ausnahme der rot eingezeichneten Türen und Fenster) zugeordnet werden. Im Grundriß wiederum sind nicht nur die einzelnen Räumlichkeiten (in Versalien) bezeichnet («Vorratsraum, Stall [zweigeteilt in «Hühner» und «Enten»], Fremdenzimmer, Büro, Wohnraum, Schlafraum, Eßzimmer, Zimmer der Köchin, Küche, Veranda, Blumengarten»), sondern auch einige Gegenstände darin mit roten Ziffern numeriert und am Fuße des Blattes in der Legende erklärt (Ziffern rot, Erläuterung in schwarzen Versalien): «1 = Schreibtisch; 2 = Schreibmaschine [beides im Büro]; 3 = Tisch; 4 = Büchergestell; 5 = Grammaphon [sic]; 6 = Ecksofa; 7 = Sofa [3-7 im Wohnraum]; 8 = Tisch [Eßzimmer]; 9 = Bett; 10 = Ankleide=< > [?]; 11 = Waschtisch; 12 = Schrank [9-12 im Schlafraum]».
17 s. Brief 21, Z. 20f. mit Anm.; Z. 49ff. sowie ebd. Anm. 21.
19 Yura, Hauptstadt des gleichnamigen Distrikts in der Provinz und Region Arequipa, ist berühmt sowohl ihrer weißen Salpeter-Felder (von denen der Name der Stadt herrührt: ‹yurac› bedeutet auf Quechua ‘weiß’ – was manche allerdings eher auf die Tuffablagerungen in diesem vulkanischen Gebiet beziehen) als auch ihrer Thermalquellen wegen, die sich der Erhitzung des Grundwassers durch die Magmakammern des Vulkans Cha(n)chani (s. Briefe 16/Anm. 3; 18/Anm. 6, Photos Nr. 2 und 3) auf einer Höhe von ca. 2.757 m ü.M. verdanken. Achtzehn teils schwefel‑, teils eisenhaltige Quellen, deren Wassertemperatur beim Austritt an der Erdoberfläche zwischen 22°C und 33°C beträgt, zählt die Stadt; die berühmteste ist der Pozo Tigre. Der mündlichen Überlieferung nach schon seit inkaïscher Zeit als Heilbad genutzt, entwickelte sich das Dörfchen Yura, darin Wiesbaden mit seinen heißen Quellen nicht unähnlich (s. Addendum 1/Anm. 9), im 20. Jh. zu einem Ort, der weit mehr Touristen anzieht, als er Einwohner hat.
20 Eisenbäder, vor allem aber Trinkkuren mit Eisen- oder auch sog. Stahlwasser, sind u.a. bei Anämie angezeigt, also der bei Friedel durch die Malaria verursachten Blutarmut. Das letzte Mal hatte er Käthe im Juli 1930 von seinen Wechselfieberanfällen berichtet (Brief 22, Z. 7ff. 22ff.).
23 Ein Hispanismus: span. ‹noticias› sind zu dt. Nachrichten, Neuigkeiten.
24 Das Briefdatum 24. Februar 1931 war ein Dienstag; der gegenrevolutionäre Sonntag demnach der 22. Die militärische Erhebung gegen den Präsidenten Luis Miguel Sánchez Cerro (s. Brief 23/Anm. 24) hatte sich am 20. Februar in Callao formiert, sprang aber nach ihrer dortigen Niederschlagung am 22. auf Arequipa über. Sie zwang Sánchez Cerro zum Rücktritt von seinem Amt, in dem sich während der folgenden Tage eine Reihe von Männern abwechselte, ohne nennenswerte Unterstützung im Volk zu finden oder zur Befriedung der innerpolitischen Lage irgend beitragen zu können. Erst der am 11. März 1931 von den arequipeñischen Aufständischen berufene Großgrundbesitzer und Politiker David Samánez Ocampo y Sobrino (1866-13.7.1947), der sich als Gegner Augusto Leguías (s. Brief 8/Anm. 7) einen Namen gemacht hatte, beruhigte die Situation, indem er für den 11. Oktober Wahlen zur Präsidentschaft und zu einer Verfassungsgebenden Versammlung ansetzte, die bürgerlichen Freiheiten wiederherstellte und die geheime Wahl – allerdings auch eine Wahlpflicht – einführte. Als Gewinner ging dann wieder der abgesetzte Sánchez Cerro aus den Wahlen hervor; er übernahm am 8. Dezember 1931 die Regierung.
25 Friedel spricht vom Banco Perú y Londres, einer 1897 durch Fusion der London Bank of Mexico and South America mit dem Banco del Callao zustande gekommenen Finanzanstalt – einer der größten, wie Friedel sagt, genauer der zweitgrößten Bank Perus nach dem Banco Italiano und der größten sogar, wenn es um Kredite an die exportierende Argrarwirtschaft ging. Wegen ihrer engen, auch nepotistischen Verbandelung mit der Regierung Leguía ging die Bank, bereits seit Mitte der zwanziger Jahre durch interne Fehlentscheidungen geschwächt und von der Weltwirtschaftskrise schwer getroffen, nach dem Sturz Leguías am 25. August 1930 (s. Brief 23, Z. 49 mit Anm.) in die Knie und wurde Ende Februar 1931 – und somit genau zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Briefes – liquidiert (s. Álvaro Lipa Sinche: La convulsión financiera del Perú y la liquidación del Banco Perú y Londres de 1925-1931, in: ISHRA, Revista del Instituto Seminario de Historia Rural Andina 2/3 (2017) 65-82; http://blog.pucp.edu.pe/blog/juanluisorrego/2012/01/01/breve-historia-de-la-banca-en-lima-hasta-1950). Zu den Auswirkungen der Krise in Peru s. Brief 23/Anm.en 28. 30.
26 Ungewöhnlich langer – und eigentlich unnötiger – Silbentrennstrich zwischen «Partei» und «idealen»: das Kompositum hätte eigentlich ganz auf eine Zeile gepaßt. Der überlange Trennstrich wirkt wie ein Gedankenstrich im genauen Wortsinne, nämlich so, als drückte er Friedels Innehalten und Nachdenken über die treffende Fortsetzung des Wortes von der «Partei» aus.
27 Vermutlich bezieht Friedel sich auf die Reichstagswahl vom 14. September 1930 und ihre Folgen. Die Wahl war nach dem Scheitern der letzten parlamentarischen Regierung unter Kanzler Herrmann Müller (SPD) im März 1930 sowie der anschließenden, von Hindenburg eingesetzten, bereits im Juli nach parlamentarischer Ablehnung ihres Haushalts wieder aufgelösten ersten Brüningschen Minderheitsregierung notwendig geworden. Im Wahlkampf sprach der DNVP-Vorsitzende Alfred Hugenberg, der durch seinen antidemokratischen Rechtskurs seine eigene Partei spaltete, von einem kommenden ‘Dritten Reich’. Selbiges trat zwar nicht sofort ein, das Wahlergebnis bereitete es aber vor: Die Parteien der bürgerlichen Mitte erlitten starke Verluste, während die NSDAP ihre Mandate von zwölf auf 107 steigern konnte (ein Plus von 15,7% und ein Gesamtanteil von 18,3% der Stimmen) und zweitstärkste Fraktion nach der SPD (minus 5,3% Stimmenanteil) wurde; auch die KPD verbuchte einen – wiewohl vergleichsweise bescheidenen – Stimmengewinn (plus 2,5%) und errang 77 Mandate. Im Gefolge dieser Wahl kam es zu einer starken und anhaltenden, erbitterten Radikalisierung der deutschen Innenpolitik; z.B. erschienen die NSDAP-Abgeordneten bei der Reichstagseröffnung am 13. Oktober in ihrer braunen Parteiuniform, obwohl das verboten war – im Bewußtsein, daß die Immunität sie vor Strafverfolgung schützte. Auch wurden v.a. in Berlin nach der Wahl pogromartige Gewalttaten gegen Juden oder auch nur jüdisch Aussehende verübt. Erschrocken ob all dieser Vorgänge, begannen ausländische Banken mit dem Abzug ihrer kurzfristigen Kredite, womit sich, zumal unter dem Einfluß der fortgesetzten Brüningschen Austeritätspolitik, die deflationären Effekte der Weltwirtschaftskrise noch verschärften. – Je nachdem, wie gut und aktuell Friedel politisch unterrichtet war, ist es auch denkbar, daß er beim Schreiben ein rezenteres Ereignis im Sinn hatte, nämlich einen großen Tumult und Eklat im Reichstag am 9. Februar 1931, der mit dem Auszug der selbsternannten ‘nationalen Opposition’ – NSDAP und DNVP – aus dem Parlament endete und über den international gewiß breit berichtet wurde. Der nach der September-Wahl 1930 zum Vizepräsidenten des Reichstags gewählte Nationalsozialist Franz Stöhr (1879-1938) wandte sich an diesem Tag – ein gemeinsam mit der KPD gegen die Regierung Brüning eingebrachter Mißtrauensantrag war in der vorausgegangenen Sitzung gescheitert – in einer Haushaltsdebatte mit drohenden Worten ans Parlament und verkündete alsdann, seine Partei werde «zum Protest» den Saal verlassen; was diese unter «Heil»-Rufen und Absingen des Horst-Wessel-Liedes dann auch tat, derweil die KPD-Fraktion «Prolet erwache» skandierte. Am 10. Februar erklärten NSDAP, DNVP und Christliches Landvolk, an der Gesetzgebung fürderhin nicht mehr mitwirken zu wollen, und Stöhr trat von seinem Amt zurück.
28 Zuerst: «bis heute», dann «heute» gestrichen und «zur heutigen» darüber gesetzt.
29 Auch als «vor» lesbar, doch weniger wahrscheinlich (s. folgende Anm.).
30 Evtl. «Ohrum», vielleicht aber auch ganz etwas anderes (liest sich wie «Dhünn» oder «Dbünn»). Für Ohrum spräche, daß Wilhelm dort geboren wurde, und zwar im Januar 1871: Ein Besuch im Januar 1931 könnte demnach durch seinen sechzigsten Geburtstag veranlaßt gewesen sein. In jedem Falle hat es in Ohrum tatsächlich einmal einen Lindenhof gegeben, ein Gasthaus, zu dem schon im 16. Jh. der Grundstein gelegt wurde, als der Büchsenmacher Tobias Küster aus Wolfenbüttel von Heinrich Julius, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg und Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel (1564-1613), die Kruggerechtigkeit (d.h. eine an den Besitz eines Grundstücks gekoppelte Schankkonzession) in Ohrum verschrieben bekam. Er kaufte einen Kothof an der Heerstraße, eben jenen Lindenhof, braute dort sein eigenes Bier (die Braugerechtsame war ihm ebenfalls verliehen) und bot Reisenden eine Übernachtungsmöglichkeit an; s. www.ohrum.de/o_05_01.asp. Die nahezu vollständige Zerstörung Ohrums im Dreißigjährigen Krieg scheint der Lindenhof überstanden zu haben, oder er wurde danach wiederaufgebaut, denn es haben sich Postkarten mit Ansichten von ihm aus dem 20. Jh. erhalten: eine schätzungsweise aus den 30er Jahren – also so, wie Wilhelm und Helene ihn gesehen haben würden –, recto beschriftet: «Gruß aus Ohrum – Post Hedwigsburg», drumherum verteilt vier Ansichten (oben: «Totalansicht», darunter v.l.n.r.: «Kriegerdenkmal», «Gasthaus „Lindenhof“ Inh. O. Fricke», «Kirche ums Jahr 300[?] erbaut»), sowie eine wohl aus den 50er Jahren stammende Karte, recto links oben «Gasthaus», i.e. Außenansicht mit zwei Autos, links unten «Clubzimmer», rechts alte «Kirche zum Teil aus 4. Jahrh.», verso im Textfeld: «Ohrum bei Wolfenbüttel, Gasthaus Lindenhof, Inh. Otto Fricke, Tel. Hedwigsburg 240». Beide im Internet unter diversen Adressen zu besichtigen.
31 Der Schlußpunkt sehr hochgestellt auf der Zeile.