Brief, hschr., schwarze Tinte auf sieben einseitig beschriebenen Blättern desselben Papiers wie Brief 21; dazu eine mit identischem Ort und Datum versehene Handzeichnung Friedels auf einem Blatt desselben Papiers (s. Z. 46 mit Anm.). Kein Umschlag.
Corire (Majes) via Arequipa – Peru
den 14. Nov. 1930.
Meine liebe Käthe!
Deinen Brief vom 3. und Deine Karte vom 19. Sept. erhielt ich am 25. Oktober. Beide waren vorher angekommen, aber ich kam erst am 25. Okt. wieder zurück von Arequipa1 und einer kleineren Reise weiter in’s Innere.
In Deinem Brief waren auch mehrere Fotos und zwar sehr nette Aufnahmen, die mir recht gefallen haben. Ganz besonders schön ist das Bildchen von der Madonna del Sasso2; geradezu künstlerisch wirkt die Palme hinter der Säule als Hintergrund. Dann der Weg der beim 10 Tannenwald entlang in den Heimgarten führt3 und ebenso der Blick in Dein Zimmer.
Und oft mag man ║II.║ garnicht zu oft an all dies denken. Man kommt dann wohl auf andere Gedanken und auch Wünsche mögen sich so leise bemerkbar machen, die man doch noch nicht erfüllt sehen kann.4 Hier gibt es stellenweise ja auch schöne Gegenden, ich sage stellenweise, denn der ganze Küstenstrich und auch die Vorberge sind trocken, Felsen und Sand5 da es ja an der ganzen peruanischen Küste nie regnet. Üppig grün sind daher dort blos alle bebauten Teile die bewässert werden können, so alle Täler und Ebenen die mit Wasser versehen werden können oder es sind. Ganz ähnlich wie in Kalifornien, wo ähnliche Verhältnisse herrschen.
6Dafür ist dann allerdings das Wachstum dort, wo Wasser hinkommt7 sehr stark<, und das> läßt ║III.║ einen oft verwundern.
Vor einigen Tagen erhielt ich auch Deine Karte vom 8. Okt. Bei Euch, da wurde es, als 22 Du sie schriebst8 schon herbstlich, hier fangt9 die heißere Zeit an und die bei Euch kältesten Monate wie Januar und Februar,10 sind hier die heißesten11
24 In den ersten Oktobertagen fuhr ich also nochmals nach Arequipa, blieb aber dort nur wenige Tage und fuhr dann mit der Bahn weiter hinauf nach Juliaca, 3825 m ü. M. nah am Titicacasee.12 Dies sind die peruanischen Hochebenen,13 unermeßlich weite Flächen zwischen 3800 und 4500 m gelegen, oft durch hügeliges Gelände abgegrenzt und die ihren Abschluß in den Schnee bedeckten Kordilleren finden.
Von Juliaca fuhr ich also dann nicht südwärts gegen ║IV14║ den Titicacasee hin, sondern nach Norden bis Ayaviri15. Von Arequipa bis Juliaca dauerts einen Tag und von dort bis Ayaviri noch einen halben Tag.
32 In Ayaviri besuchte ich Bekannte16 Ein deutscher älterer Herr aus München, der Ingenieur, Geologe und Minenfachmann ist und dort Minen besitzt und eine Norwegerin zur Frau hat.17
Sehr nette Menschen. Ayaviri liegt 3903 m hoch. Von dort machten wir dann eine mehrtägige Autotour, durch die ganze Hochebene quer hindurch, bis an den Cordillerenpaß „Paso de Aricoma“ 4800 m; dort war schon alles Eis und Schnee. Mit dem Auto gings dann auf der anderen Seite der Cordillere noch ein Stück hinunter und den [sic] Rest des Weges bis zu unserem Ziele mußte dann mit Maultieren ║V║ gemacht werden. Über 400 km hatten wir 40 gemacht auf dieser Tour und war’s wirklich schön.18 Auf den Hochebenenen wo nur spärlicher Graswuchs herrscht, sind die großen Schafzuchtereien [sic], dann weiter oben auch viele Llamas19 und über 4000 m findet man auch das Alpaca20 und Vicuña21.
44 Meine Bekannten aus Ayaviri wollten mir von den Aufnahmen die wir machten, die Bilder senden{,} bis heute habe ich aber noch nichts bekommen; sonst hätte ich Dir heute schon 46 etwas beilegen können.22
Auf der beiliegenden kleinen Skizze kannst Du die Fahrt gut vergleichen.23 So war ich 48 drei Wochen unterwegs und der Aufenthalt dort hoch oben hat mir sehr gut getan. Durch dieses 49 Talklima wird man eben doch etwas schlapp. ║VI.║ Im Monat August und September hatten wir hier ja auch Revolution,24 wie in verschiedenen Nachbarländern.25 Es ging alles relativ rasch zu Ende und blos an einige [sic] Orten kam es zu blutigen Zusammenstößen. Damit verbunden, oder dadurch hervorgerufen26 kam eine Bankkrise die au<f>27 Handel und die Preise und besonders den Geldwert einen schlechten Einfluß hatte, so daß das peruanische Pfund augenblicklich ziemlich tief steht.28 All dies fiel eben gerade29 in die fast in allen Ländern sich 54 fühlbar machende Krise und muß man nun etwas abwarten wie sich das entwickeln wird.30
Dieser Brief wird wohl vor Weihnachten bei Dir eintreffen und möchte ich Dir von 56 Herzen alles Gute wünschen ║VII║ für die Festtage und auch fürs Neue Jahr.
In San Vicente, wo Herr und Frau Gnamm wohnen,31 auch noch drei weitere Deutsche sind, werden wir32 auch Weihnachten feiern, aber es ist doch nicht das Gleiche wie Drüben [sic], 59 denn zu Weihnachten gehört Winter, wir haben uns eben daran gewöhnt.
61 Aber trotzdem es wird ja ganz nett werden; und sind wir doch immer mehrere zusammen.
Mit den allerbesten Wünschen und vielen recht vielen Grüßen verbleibe ich
Dein
Friedel.
1 Den Oktober-Aufenthalt in Arequipa hatte Friedel in Brief 22, Z. 20, angekündigt. Bei der Gelegenheit hatte er auch versprochen, Käthe mit Bildern der Stadt zu versorgen (ebd. Z. 19-21). Da solche dem vorliegenden Brief nicht beilagen, ist anzunehmen, daß Käthe ihren Cousin unterdes daran erinnert hatte, daß er ihr bereits Ende 1925 solche Ansichten mitgesandt habe.
2 Wallfahrtskirche am Felsen (daher ‹sasso› ‘Stein, Fels’) von Orselina oberhalb Locarnos im schweizerischen Kanton Tessin. Sie ist Teil einer seit Ende 15./Anfang 16. Jh. errichteten Anlage mit (Franziskaner‑)Kloster, Kapellen, Via crucis und einer weiteren Kirche, wurde selbst jedoch erst ab 1616 erbaut. Die wundertätige Holzstatue der Madonna del Sasso stammt allerdings ebenso wie der Name bereits aus dem 15. Jh. – Offenbar hatte Käthe wieder einmal eine Reise in die Schweiz auf den Spuren ihres Cousins unternommen: In Orselina ob Locarno war Friedels Vater einmal Lehrer gewesen (s. Einleitung; s. zudem die Erwähnung von Heimgarten zwei Zeilen weiter). Vielleicht besuchte Käthe im Tessin auch wie Friedrich Kürschner den Monte Verità (s. Einl.).
3 Zu Heimgarten s. Einleitung.
4 Gemeint ist wohl der Wunsch nach einem Besuch in der alten Heimat – den nicht einmal so sehr die Aufnahme aus Heimgarten als vielmehr die von Käthes Zimmer wiedererweckt haben wird, welches ihm bei seinem Besuch im Sommer 1922 einen besonders anheimelnden Eindruck gemacht haben muß: vgl. Briefe 3, Z. 45 mit Anm. und weiteren Verweisen; 12, Z. 26f. mit Anm. und weiteren Verweisen.
5 Fehlendes einschließendes Komma sic.
6 Ab hier nur etwa halb so großer Einzug wie bisher.
7 Fehlendes einschließendes Komma sic.
8 Fehlendes einschließendes Komma sic.
10 Komma sic.
11 Fehlender Satzpunkt sic.
12 Der vermutlich schon in vorgeschichtlicher Zeit besiedelte Ort Juliaca liegt nur ca. 24 km entfernt vom Titicacasee auf der Hochgebirgsebene, dem Altiplano (zu welchem s. folgende Anm.). Heute ist er Hauptstadt und Wirtschaftszentrum (v.a. Textilindustrie) der 1926 geschaffenen Provinz San Román und des gleichnamigen Distriktes in der südöstlichen peruanischen Region Puno. Wegen der exponierten Lage auf der Hochebene wird Juliaca auch ‹Ciudad de los vientos›, ‹Stadt der Winde› genannt, da fast das ganze Jahr über trockene, kalte Winde über sie hingehen. – Der Titicacasee an der peruanisch-bolivianischen Grenze, von schneebedeckten Bergen eingerahmt, ist mit seinen 8.288 km² der größte Süßwassersee Südamerikas und das höchstgelegene kommerziell schiffbare Gewässer der Erde (durchschnittliche Tiefe 107 m). Der Altiplano erreicht hier seine größte Breite von mehr als 900 km. Der See gilt als Ursprungsgebiet des Kartoffelanbaus, und nach wie vor werden um ihn und auf ihm, d.h. auf seinen Inseln, Kartoffeln, Gerste, Mais und Quinoa angebaut. Es gibt eine Vielzahl teils fester, teils schwimmender Inseln, letztere von den Uru-Indianern aus Totora-Schilf erbaut, ursprünglich zum Schutze gegen die Inkas und Kollas. Noch heute sollen einige hundert Urus auf den schwimmenden Inseln leben. In der Inka-Mythologie spielt der See, insbesondere die auf seiner bolivianischen Seite liegende Isla del Sol (Sonneninsel), eine zentrale Rolle: Es ist der Geburtsort der ersten beiden Incas, des Manco Cápac und seiner Schwester Mama Ocllo. (Wissenschaftlich spricht allerdings einiges dafür, daß die Inkas aus dem Amazonastiefland stammten.)
13 Die peruanischen Hochebenen, wie die argentinischen, bolivianischen und chilenischen auch ‹puna› genannt, bilden ihrerseits einen Teil des gesamten sog. Altiplano, der baumlosen, ariden, in ihren Hochtälern semi-ariden Anden-Hochebene, die sich west-östlich über die gesamte Breite der Cordillera de los Andes erstreckt und in der Nord-Süd-Ausdehnung annähernd von Lima bis auf die Höhe des chilenischen Copiapó, d.h. die Südgrenze der Atacama-Wüste, reicht – eine Fläche von ca. 170.000 km². Der Altiplano beherrscht neben Peru einen Großteil des bolivianischen Gebietes und auch die argentinischen Nordwest-Provinzen Jujuy, Salta, Tucumán und teilweise noch Catamarca. Eindrückliche Worte findet der Ökonom und Inka-Forscher Louis Baudin für ihn als «ungeheure, steppenhafte Einöde auf einer Höhe von dreitausend bis fünftausend Meter, die sich nach Norden und Süden endlos verliert. Kein Lebewesen, kein Baum, kein Geräusch: ein Land des Schweigens, der Eintönigkeit und der Trauer» (Louis Baudin: Das Leben der Inka. Die Andenregion am Vorabend der spanischen Eroberung (1955), übers. Curt Meyer-Clason. Zürich: Manesse ²1993, S. 15; die gesamte Einbettung dieser alten Inka-Landschaft bei Baudin ist lesenswert: S. 11-16). Bei einer durchschnittlichen Höhe von 3.600 m ist das Klima grundsätzlich trocken und eher kalt, wartet jedoch im Sommer, wo durchaus mögliche Tagestemperaturen von 25°-30°C übergangslos in Nachtfröste umschlagen können, mit extremen Temperaturschwankungen über den Tag hinweg auf. Ackerbau ist nur begrenzt möglich (s. vorausgehende Anm.); überwiegend wird extensive Viehhaltung betrieben (s. Z. 40-42). – Der einschlägige deutsche ‹Wikipedia›-Artikel zeigt u.a. eine Flugaufnahme des Altiplano gerade bei Friedels Ausgangspunkt Ayaviri.
14 Fehlender Ordinalzahl-Punkt hier sowie beim Wechsel auf S. V und VII sic.
15 Ayaviri liegt wie Juliaca in der südperuanischen Region Puno (s.o. Anm. 12), jedoch weiter nördlich in einer anderen Provinz und einem anderen Distrikt (Melgar), am linken Ufer des Pucará (hier a. Río Ayaviri), ca. 90 km vom Titicacasee entfernt.
16 Dieses Wort als letztes auf die Zeile gequetscht; der in der Zeile darunter stehende, flüchtige Strich ist mglw. als Komma dazu gedacht, wiewohl der nächste Satz mit Großbuchstaben beginnt.
17 Friedel hatte das Ehepaar im Juni/Juli desselben Jahres in einer Pension in Arequipa kennengelernt, wo er sich von seinem letzten Malaria-Anfall erholte; s. Brief 22, Z. 38ff., bes. Z. 41f. In jenem Brief schreibt er, das Paar besitze Minen in Bolivien – was einen hier erwähnten, entsprechenden Besitz auch im peruanischen Ayaviri natürlich nicht ausschließt. Doch sind diese beiden etwas disparaten Auskünfte durchaus von Belang, wie sich weiter unten zeigen wird. – Zunächst erfahren wir durch die Brief 25 beigelegten Aufnahmen des hier geschilderten Ausflugs, daß es sich bei dem Mann um den – heute nahezu vergessenen, damals jedoch sehr bekannten – Münchener Geologen, Bergbauingenieur und Bergsteiger Adolfo Schulze handelte. Schulze, 1880 in Mexiko als Sohn deutscher Auswanderer geboren (Friedels «älterer Herr» war 1930 also fünfzig Jahre alt), die 1884 nach Deutschland zurückkehrten, machte sich schon in jungen Jahren durch seine zahllosen, äußerst wagemutig und zugleich stets bemerkenswert rasch und effizient ausgeführten Erstbesteigungen in den deutschen, österreichischen, Schweizer und französischen Alpen einen Namen. Als «Uschba-Schulze» wurde er 1903 dann auch einem größeren Publikum durch seine Erstbesteigung des 4.737 m hohen, als weltschwierigster Berg geltenden Südgipfels des im heutigen Georgien liegenden Uschba bekannt: Kurz nach einem ersten, vergeblichen Anlauf, bei dem er eine starke Kopfverletzung erlitt, erreichte Schulze im Juli 1903 schließlich als erster Mensch diesen Gipfel – und bestieg unmittelbar darauf noch etliche weitere in dem als ‹kleines Himalaya› bezeichneten Fünftausender-Gebiet des Kaukasus. 1909 ging er nach Norwegen, wo er Ragna Baehr Claussen kennenlernte und heiratete. Anfang 1912 ließen die beiden sich in der bolivianischen Hauptstadt La Paz nieder, wo Schulze Goldminen beaufsichtigte, aber auch weiterhin dem Alpinismus frönte (1915 Besteigung des 6.460 m hohen Südgipfels des Illimani und Erstbesteigung – im Alleingang – des fast 6.000 m hohen Nevado Mururata nördlich des Illimani). Anfang 1919 zog er mit sener Frau in die Nähe der kleinen, 150 km nördlich von La Paz gelegenen, von lauter Über-Sechstausendern umgebenen Goldgräberstadt Sorata, wo er die Mine Hucumarini leitete und noch weitere Ersteigungen unternahm. Danach verliert sich seine Spur; erwiesen scheint nur, daß er 1928 nicht mehr in Sorata lebte. Erst 1939 wird er kurz wieder in Arequipa aktenkundig; später – möglicherweise nach dem frühen Tod seiner Frau im Jahre 1940 – zog er nach Cuzco und arbeitete, in relativer Armut lebend, bis zu seinem eigenen Tod im Frühsommer 1971 an der alten, von Cuzco zum Titicacasee führenden Inkastraße. Seine Grabstätte ist unbekannt; lediglich ein schwer zu besteigender Gipfel des Illampú erinnert mit seinem Namen heute noch an ihn: der Pico Schulze mit, je nach Auskunftsquelle, 5.830 oder 5.930 m Höhe. Zu Adolfo Schulzes Leben vgl. die eindrückliche Darstellung (aus der auch die vorliegende Zusammenfassung schöpft) von Stefan Meineke: Ein Leben voller Abenteuer. Adolf Schulze – ein vergessener Pionier des Alpinismus, in: Alpenvereinsjahrbuch 125 (2001) 96-109. – Dank Friedels Briefen 22, 23 und 25 ist es uns vergönnt, etwas Licht in die biographische und ineins damit Forschungslücke zu bringen und festzustellen, daß Schulze sich im Jahre 1930 noch nicht vollständig aus Bolivien verabschiedet hatte, vielmehr nach wie vor dort Minenbesitz unterhielt, seinen Wohnort aber bereits nach Peru verlagert hatte, ins knapp 100 km nördlich vom Titicacasee gelegene Ayaviri, wo er laut Friedel Kupferminen besaß (Brief 25/Anm. 1, Photo Nr. 1) und von wo aus er weiterhin Berge bestieg, auch in Begleitung seiner Frau.
18 Zu der seltsamen Satzinversion s. Brief 20/Anm. 12 sowie weiter unten im vorliegenden Brief Z. 54. 56. 61.
19 Das Llama (dt.: Lama; wiss. Name: Lama glama) ist der (seit ca. fünftausend Jahren) domestizierte Abkömmling des Guanaco und wie alle Kamel-Arten ein Paarhufer, Schwielensohler und überaus genügsamer Pflanzenfresser, der lange ohne Wasser auskommt. Llamas wurden in allen andinen Regionen von Ecuador bis hinunter nach Süd-Chile schon von den Inkas und ihren Vorgängern gezüchtet – allem Anschein nach in mehreren, voneinander unabhängigen Versuchen –, denen sie hauptsächlich als Lasttier dienten, aber auch als Woll‑, Fleisch‑, Wachs‑, Brennstoff- und Dünger-Lieferant. Nach der spanischen Conquista ging der auf 30-50 Mio. Tiere geschätzte Bestand durch Vernachlässigung und Bejagung rapide zurück, hat sich inzwischen aber etwas erholt. Heute werden Llamas auch außerhalb Südamerikas gezüchtet.
20 Das Alpaca (dt.: Alpaka; wiss. Name: Vicugna pacos) ist wie das Llama eine Haustierform des Kamels (seine Züchtungsgeschichte reicht sogar noch weiter zurück, ungefähr sechs- bis siebentausend Jahre), stammt aber nach neueren Erkenntnissen nicht wie jenes vom Guanaco, sondern von der Vicuña ab. Mit letzter Sicherheit läßt sich das indes nicht sagen, da alle Kamelarten der Neuen Welt untereinander fruchtbar und kreuzbar sind, so daß sich die Linien vielfach vermischt haben dürften. Alpacas sind etwas kleiner und leichter als Llamas (mit denen sie die Angewohnheit, bei Angriff oder Verteidigung zu spucken, teilen), ihre Wolle ist feiner. Wie Friedel sagt, leben sie gleich den Vicuñas in Höhen ab 3.500-4.000 m ü.M. Die spanische Eroberung überlebten sie wie die Llamas in geringer Zahl als Nutztiere der verarmten Indios, allerdings weniger als Tragtiere denn als Lieferanten von Wolle.
21 Das Fell der zierlicheren Vicuña (dt.: Vikunja; wiss. Name: Vicugna vicugna) ist wiederum feiner, kürzer und seidiger als das des Alpaca und wärmt deswegen noch besser. Ihre Wolle, schon bei den Inkas der herrschenden Kaste vorbehalten, gilt als seltenste und teuerste der Welt. Wie alle ihre neuweltlichen Verwandten (von denen sie sich u.a. durch die Notwendigkeit der täglichen Wasseraufnahme unterscheidet, weshalb sie in der Nähe von Flüssen oder Lagunen oberhalb 3.200 m anzutreffen ist) wurde die Vicuña von den Spaniern stark dezimiert, um Platz für Pferde- und Schafweiden zu schaffen – selbst vor Vergiftung ihrer Wasserstellen schreckte man nicht zurück. Bis 1965 ging die Zahl dieser anmutigen Tiere von annähernd 3 Mio. bei der Eroberung Südamerikas auf ca. sechstausend zurück. Inzwischen zählt man wieder an die 200.000 Vicuñas.
23 Die wundervolle Zeichnung (das Wort ‹Skizze› scheint allzu bescheiden), die rechts oben Ort und Datum des Briefes wiederholt, erfaßt die südliche Hälfte Perus vom Titicacasee (bzw. noch etwas südlicher davon einen Zipfel bolivianischen Territoriums mit dem Grenzort Guaqui und dem Beginn der Bahnstrecke nach La Paz) bis hinauf nach Lima und Callao. Plastisch unterscheidet Friedel in seiner genordeten Darstellung die verschiedenen Gebirgsketten der peruanischen Anden (deren westlichste und niedrigste, bei ihm unbenannt gebliebene, ‹Cordillera Occidental› heißt, während die von ihm als «Vorgebirge» bezeichnete im Süden Perus ‹Cordillera Volcánica› geheißen wird, wegen der vielen gerade auch um Arequipa gelegenen Vulkane, zu welchen vgl. Brief 18/Anm. 6, Nr. 1-3). Sodann trägt er die gesamte Strecke der peruanischen Südbahn (Ferrocarril del Sur; vgl. Brief 16/Anm. 3) von Mollendo an der Pazifikküste über Arequipa (vgl. Brief 18/Anm. 6, Nr. 5 und 7 sowie ebda., Asterisk (*), letzter Abs. der Beschreibung von Vicente Grez), wo er selber zustieg, und den Crucero Alto, mit 4.470 m höchsten Paßbahnhof dieser Bahn, bis nach Juliaca (3.825 m) ein, wo die Strecke sich teilt: in einen südöstlichen Stummel mit der Endstation Puno am Titicacasee (3.800 m) und einen wesentlich längeren, nordwestlich über Ayaviri (3.903 m), wo seine Gastgeber wohnten, nach Cuzco (3.355 m) führenden Zweig. Schließlich zeichnet Friedel mit rotem Stift die Autostrecken seiner Reise nach: zuerst den Weg von seiner Hacienda in Maran Grande nach Arequipa – mit einer Abzweigung nach Camaná, seinem früheren Arbeitsort (Briefe 17-20), wo er auf dem Hin- oder Rückweg einen im Brief nicht erwähnten Besuch bei alten Bekannten eingelegt haben mag –, und dann von Juliaca, seinem Zielbahnhof, an dem er vermutlich von seinen Gastgebern abgeholt wurde, über Ayaviri scharf östlich in die Höhenzüge hinein bis zum Z. 37 beschriebenen Paso de Aricoma (4.800 m) und wieder hinunter nach Huancarani ganz im Osten der Karte. Neben der Legende links oben mit den Symbolen für «Eisenbahn», «Autowege» und «Höhenzahlen ü.M.» gibt Friedel rechts neben der Cordillera Oriental einige Entfernungen an: «Majes (Corire) – Arequipa = 175 km; Arequipa – Juliaca = 305 km; Juliaca – Ayaviri = 92 km; Ayaviri – Huancarani = 410 km».
24 Am 22. August 1930 hatte sich justament in Arequipa der schon zuvor einschlägig hervorgetretene Garnisonskommandant Luis Miguel Sánchez Cerro (12.8.1889-30.4.1933) gegen den Präsidenten Augusto B. Leguía (s. Brief 8/Anm. 7, zweite Hälfte) erhoben – keineswegs der erste, aber der erste erfolgreiche Putschversuch in dessen ihrerseits durch einen Putsch zustande gekommener, elfjähriger zweiter Amtszeit. Auslöser war neben der oligarchischen Korruption und der umstrittenen, da Land zedierenden Außenpolitik Leguías (Grenzverträge mit Kolumbien 1922 und Chile 1929) v.a. die im Oktober 1929 ausgebrochene Weltwirtschaftskrise, mit der die bis dahin reichlichen amerikanischen Geldzuflüsse schlagartig versiegten, die Rohstoffpreise ins Bodenlose fielen, Firmen bankrott gingen und das Leben im überschuldeten Peru für viele unerschwinglich wurde. Der Aufstand breitete sich im Süden des Landes rasch aus und erfaßte auch Lima, wo Sánchez Cerro am 27. August eintraf und eine Militärjunta unter seinem Vorsitz einberief. Schon zwei Tage zuvor war Leguía abgesetzt und samt Angehöriger ins Gefängnis geworfen, sein (und anderer Politiker) Haus vom Volk gestürmt und geplündert worden. Sein mitinhaftierter Bruder, der Senatspräsident Roberto Leguía – mit dem Friedels Wege, wir wissen nicht genau, wie intensiv, sich 1928 einmal gekreuzt hatten (Brief 19, Z. 12-20 mit Anm. und dortigen weiteren Verweisen) –, starb in dieser tumultuösen Zeit, aus der das genaue Todesdatum sich nicht überliefert hat. Auch nach Etablierung der Junta unter Sánchez Cerro blieb das Land politisch unruhig; allenthalben erhoben sich Arbeiter, Studenten und Soldaten, selbst nachdem Sánchez Cerro Wahlen in Aussicht gestellt hatte (zu deren Ergebnis s.u. Anm. 30). Eine photographische Aufnahme Sánchez Cerros im Wahljahr 1931 in: Ausst.-Kat. Chambi, a.O. (Brief 22/Anm. 19), S. 61 (Nr. 54).
25 In Brasilien übernahm nach verlorener Präsidentschaftswahl und einer Intervention revoltierender Militärs am 24. Oktober 1930 Getúlio Vargas die Macht, die er bis 1945 diktatorisch ausübte, dabei zahlreiche weitere Aufstände niederschlagend. In Bolivien löste die Weltwirtschaftskrise starke politische und soziale Spannungen aus, die sich 1932 im Chaco-Krieg mit Paraguay gewaltsam Bahn brachen. In Ecuador wurde der vom Militär eingesetzte Präsident Isidro Ayora 1931 gestürzt; Unruhen gingen dem voraus und folgten, und auch hier kam es zu einem Krieg, nämlich 1941 mit Peru um die Grenze im oberen Amazonas-Gebiet. In Chile führte die Weltwirtschaftskrise zu schweren und anhaltenden Rebellionen, die 1932 in der kurzlebigen ‹República socialista de Chile› gipfelten. Auch andere, Peru nicht unmittelbar benachbarte Staaten Süd- und Mittelamerikas erlebten in dieser Zeit Putsche, Aufstände und Revolutionen, die häufig in diktatorischen Regimes endeten. So wurde in Argentinien am 6. September 1930 der bürgerliche Präsident Hipólito Yrigoyen von der Oligarchie im Verein mit dem Militär von General Uriburu gestürzt, womit die ‹Década infame›, das ‹schändliche Jahrzehnt› mit der Herrschaft sukzessiver, durch sog. patriotischen Wahlbetrug an die Regierung gelangter Politiker und Generäle begann, die ab 1943 in den Peronismus überging.
26 Fehlendes abschließendes Komma sic.
27 Liest sich eher wie ‹auch› oder ‹aud›.
28 Das peruanische Pfund, die ‹libra peruana›, wurde zwischen 1898 und 1930 als Parallelwährung zum Sol sowohl in Gestalt von Goldmünzen als auch von Geldscheinen ausgegeben. Die Goldmünzen hatten wie der englische Sovereign einen Feingehalt von 91,7% (22 Karat). Ein Pfund entsprach im Wert zehn Silber-Soles. Die Regierung war bemüht, die Bindung der Libra an das englische Pfund Sterling aufrechtzuerhalten, sah sich jedoch mit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, die ihre wie so vieler anderer Regierungen Zahlungsschwäche offenbarte, gezwungen, die Prägung von Goldmünzen einzustellen und sich, dem allgemeinen Trend der frühen 1930er Jahre folgend, vom Goldstandard abzukehren. Für den Außenhandel wurde das peruanische Pfund bisweilen noch verwendet und bis 1969 sogar gelegentlich nachgeprägt.
29 Folgt Durchstreichung eines Wortes oder Wortanfangs, evtl. irrtümliche Wiederholung des vorausgegangenen «gerade».
30 Die Talfahrt an den Börsen sollte bis Juli 1932 anhalten. Der Abzug amerikanischer Investitionen und Kreditmittel bedeutete (nicht nur, aber eben auch) für Peru, daß es seine Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen konnte. Die Rohstoffpreise (besonders wichtig für Peru: Baumwolle, Wolle, Zucker, Mineralien) verfielen, was u.a. zu einer Hypothekenkrise führte — Banken brachen zusammen, zusätzlich verschärft durch die kontraktive amerikanische Geldpolitik — Firmen gerieten in Schieflage, was Produktionsrückgänge, Massenentlassungen, Verelendung und sinkende Preise aufgrund rückläufiger Nachfrage, also eine Deflation mit der Neigung zur Selbstperpetuierung zur Folge hatte (Deflationsspirale). Allseitige Illiquidität, Kreditklemme, Bankenstürme, Masseninsolvenzen, Aufgabe des Goldstandards (s. a. Anm. 28) sind weitere Stichworte zur wirtschaftlichen Entwicklung. Allerdings sollte der Verfall der Rohstoffpreise in Südamerika durchaus auch einen Modernisierungsschub bewirken, indem er die rohstoffexportierenden Länder zwang, ihre Produktion stärker an den vorhandenen Ressourcen und an der Inlandsnachfrage auszurichten. Der Verfall der Weltmarktpreise für Exportgüter konnte teilweise durch Währungsabwertungen aufgefangen werden. Zölle, Importverbote bzw. ‑quoten und andere protektionistische Maßnahmen wie staatliche Aufkäufe und Lagerung unterstützten zusätzlich die einheimische Wirtschaft (schadeten allerdings dem Weltwirtschaftssystem). Zuvor importierte Produkte wurden zunehmend inländisch hergestellt und dank stärkerer Mechanisierung konkurrenzfähiger (sog. importsubstituierende Industrialisierung). Politisch entstand in dieser Konstellation in Lateinamerika der Populismus, d.h. die Durchsetzung von Modernisierungsstrategien durch eine personenzentrierte Politik mit starker Massenmobilisierung; Bündnisse gegen die traditionelle Agraroligarchie ermöglichten nach anfänglicher Austerität Ansätze zu einem Wohlfahrtsstaat. Peru brachte mit Víctor Raúl Haya de la Torre (22.2.1895-2./3.8.1979) einen Politiker hervor, der diese Entwicklung prototypisch für den gesamten Kontinent verkörperte: Er hatte schon 1924 die ‹Alianza Popular Revolucionaria Americana› (APRA) gegründet, die zugleich innerperuanische Partei und lateinamerikanische Sammlungsbewegung war, sc. der noch heute geläufige sog. Aprismo mit anti-(nord‑)amerikanischen, antiimperialistischen, protektionistischen, staatskapitalistischen, sozialistischen, landreformerischen und kollektivistischen Ideen. In der Praxis allerdings – wofern einmal Gelegenheit zu ihr gegeben war – agierte die APRA opportunistisch und prinzipienlos. Haya de la Torre (auch er im übrigen ein Habitué des durch die Krise schwer gebeutelten Photo-Ateliers Vargas Hnos.; s. Brief 22/Anm. 19) kandidierte bei den Parlamentswahlen im Oktober 1931, verlor aber gegen den Putschisten Sánchez Cerro (s.o. Anm. 24 sowie Brief 24, Z. 61ff. mit Anm.), der im Dezember desselben Jahres seine Präsidentschaft antrat. – Vergleichbare Politiker waren bzw. wurden in Mexiko General Lázaro Cárdenas (1929 Gründung des ‹Partido Nacional Revolucionario›; seit 1946: ‹Partido de la Revolución Instituctionalizada›, PRI), in Brasilien Getúlio Vargas (Anm. 25), in Argentinien Perón (ebd.).
31 Zu den Gnamms s. Brief 21, Z. 20-22 mit Anm.
32 Zu Friedels unklarem neuen «wir» s. Brief 22/Anm. 14.