Brief, hschr., schwarze Tinte auf gut dreieinhalb Seiten, die zwei Blätter dünnen, durchscheinenden Pa­piers mit leichten Einrissen an den Knickfalten ein­neh­men; Format wie Brief 3; kein Um­­schlag.

Ulm-Do [?], Friedensstr. [sic] 21, den 6. Okt. 1923.1

 Liebe Käthe!

 Auf Deinem letzten Briefe, der mir nach Ulm nachgesandt wurde und den ich am 23. August erhielt, ist eine Freimarke von 1000 Mark aufgeklebt und das sagt auch schon, daß längere Zeit vergangen sein muß inzwischen.2 Nein, man kann ruhig sagen, es ist schon recht lange her und wenn man Dir sagen würde daß ich vielleicht verstorben sei3 inzwischen dann könntest Du wenigstens,4 {sagen,} na, ich dachte mir doch, daß etwas Besonderes vorgefallen sei, weil der Friedel überhaupt nichts mehr hat von sich hören lassen. Es ist schon mehr fast undankbar von mir, aber oft ist’s wie ein Schicksal daß man einfach keinen einzigen Brief schreibt.

10 Als ich kurz vor Erhalt Deines letzten Briefes nach Ulm kam, es war wohl nach Mitte August, hatte mich Papa mit Auswanderungsplänen überrascht. Er hatte ja immer die Absicht gehabt, wieder auszuwandern,5 aber auswandern kostet viel Geld und daran war’s bis jetzt auch gescheitert. Seit bald einem Jahre steht mein Vater mit Leuten in Perú6 (Westküste Südamerika) in Briefwechsel und als ich damals │ nach Ulm kam, hatte Papa sich entschloßen hin zu gehen. 15 Noch zwei oder drei weitere Familien aus Ulm wollen sich anschließen.7 Es folgten viele Besprechungen, den einen Abend war man bei denen und einen andern waren wieder Leute bei uns. Sonntag kamen immer alle zusammen und man besprach gemeinsam alles Wichtige; wenn einige Familien mit Kind und Kegel ausziehen wollen dann wartet manche Frage auf ihre Beantwortung. Ich war öfters einige Tage in Stuttgart und habe dort immer verschiedenes in der 20 Angelegenheit erledigen können. Auf dem Konsulat den Vertretungen der Schiffahrtsgesellschaften, die verschiedenen Ämter und Instanzen machen einem selbst das 22 Fortkommen nicht leicht. Das heißt ich selbst habe ja keine großen Schwierigkeiten, aber die Deutschen müßen doch allerlei Papiere in Ordnung bringen; bis man auf den Steuer- und Finanzämtern gewesen ist, bei den verschiedenen Polizeiämtern da kann einem der Tag kurz vorkommen, aber auch lang, wie man will.

26 Wenn also nichts mehr dazwischen kommt – heute ist ja alles möglich im Deutschen Reich – da{nn} dürften wir kurz nach Mitte November reisefertig sein. Der Dampfer selbst geht 28 am 22. November ab Genua. 8

Wir wären natürlich gerne über Hamburg oder Bremen <gefahren>, mit einem ║2║ deutschen Schiff wäre es sicher in mancher Hinsicht angenehmer gewesen, aber die Dampfer aller der Gesellschaften sind für die nächste Zeit besetzt9 und so liegt uns die Abfahrtszeit des italienischen Dampfers ab Genua am günstigsten. – Wenn wir tatsächlich mit diesem Dampfer 33 fortkommen, dann werde ich wohl nicht mehr nach Braunschweig kommen vorher und damit 34 muß ich auch meine Berliner Besuche fallen lassen. Für kurze Tage ist die Reise bis dahin doch zu teuer und etwas länger dort zu bleiben dann, das geht nicht mehr. Anfang November werde ich schon voraus nach der Schweiz fahren um im Heimgarten noch einige Kisten zu packen die auch mit sollen.

38 Nun ja, schwimmen tun wir noch nicht, es wäre allerdings sehr schade wenn die Abreise durch irgend einen Vorfall gestört würde. Aber man muß heute mit allem rechnen.

40 Mein Examen in Hohenheim ging vor Mitte August zu Ende und es ist zu meiner Zufriedenheit ausgefallen. Einige Wochen darauf erhielt ich dann auch mein Diplom zugesandt.

10Ich bin wirklich froh daß das Studieren nun ein Ende hat, trotzdem es wohl bei fast jedem zu 43 der freiesten Zeit im Leben gehört. Aber heute wirken vor allem auch die so ungünstigen Lebensverhältnisse wesentlich mit einem das Studium nicht zu verschönern, ja es vielen überhaupt │ ganz unmöglich <zu> machen.45

46 Hans hat es ja sehr gut getroffen, das freut mich und ich möchte unserem „Zuckerdirektor“ weiter alles Gute wünschen.11

48 In Ulm ist’s schon so frisch daß wir seit einiger Zeit heizen müßen und das Leben ist 49 doch eigentlich hier jetzt recht traurig. Und wenn man die Möglichkeit vor sich sieht hinaus zu kommen, dann möchte man auch nicht mehr länger bleiben.

Wir werden ja sehen, wie sich nun alles abwickeln wird.

52 Den Tod Tante Maria’s wirst Du ja auch erfahren haben.12 Die Nachricht kam seinerzeit für mich sehr plötzlich da ich nur wußte daß sie etwas krank sei. Sie hat ja noch sehr leiden müßen. Der Tod greift doch immer gewaltsam in das Leben ein.

 Ich muß für heute schließen und es bleibt mir nur übrig Dich herzlich zu grüßen.

Dein Friedel.

Anmerkungen

1 Die Adreßzeile sehr dicht am oberen Blattrand. – Falls die Lesung «Ulm-Do» stimmt, könnte dies für ‹Ulm/Donau› stehen. Möglich wäre, bei der Ähnlichkeit von ‘o’ und ‘s’ in Friedels Handschrift, auch eine Lesart «Ulm-Ds», was dann auf Donaustetten oder Dornstadt verweisen könnte. Eine «Friedensstraße» mit zwei ‘s’ scheint es zumindest heute im ganzen Ulmer Raum – also auch in Donaustetten und Dornstadt – nicht zu geben. Eine ‹Friedenstraße› mit nur einem ‘s’ hingegen liegt in Ulm-Mitte, und zwar am Alten Friedhof; in Nr. 21 – sofern identisch mit der damaligen Hausnummer – residieren heuer eine Anwalts- und eine Steuerberaterkanzlei. Da Friedel in Brief 9, Z. 1, den Straßennamen mit nurmehr einem ‘s’ schreibt, ist anzunehmen, daß es sich tatsächlich um diese Straße im Zentrum der Stadt handelt, was dann auch die Lesart «Ulm-Do» stützen würde.

2 In der Tat kostete das Porto für einen 20g-Fernbrief zwischen dem 1. und dem 23. August 1923 eintausend Mark. Durch die herrschende Hyperinflation stieg dieser Betrag bis Ende August 1923 schon auf zwanzigtausend Mark, bis zum 19. September auf 75.000, bis Ende September auf 250.000 und endlich in der Zeit vom 1. bis zum 9. Oktober, in die der vorliegende Brief fällt, auf schwindelerregende 2 Mio. Mark. Damit war freilich noch längst kein Haltepunkt erreicht. Vielmehr übersprang die immer entfesselter galoppierende Teuerung am 5. November beim Briefporto die Milliardengrenze, und am 1. Dezember kostete ein 20g-Fernbrief 100 Mrd. Mark. Erst dann kam es mit der sukzessiven Einführung der Rentenmark zu einem Währungsschnitt. Auf den Postämtern wurden nur noch Rentenpfennig-Marken verkauft. Da die Inflationsmarken jedoch bis Ende des Jahres ihre Gültigkeit behielten, kursierten neben den neuen Rentenpfennig- (im Falle der 20g-Fernbriefe: 10 RPf‑)Marken noch zahlreiche sog. Dezemberbriefe oder Dezemberfrankaturen mit 100-Mrd.-Inflationsmarken.

3 Folgt nachträglich gestrichenes Komma.

4 Komma sic.

5 Dies bezieht sich auf seine Auswanderung Ende des 19./Anfang des 20. Jh. in die Schweiz und evtl. zuvor nach Brasilien (s. Einleitung).

6 Friedels Schreibung mit Akzent auf dem ‘u’ ist die im Spanischen korrekte.

7 Neben der Kürschnerschen Wanderungs-‘Tradition’ könnte man hier auch so etwas wie eine lokale Tradition am Werke sehen, indem Ulm schon im späten 17. und im 18., und dann noch einmal im frühen 19. Jh., ein Zentrum der Auswanderung war: nämlich der sogenannten Donauschwaben oder Ungarländischen Deutschen und anderer Landsleute, die nach den neueroberten habsburgischen Landen in Südosteuropa, später nach Bessarabien, ans Schwarze Meer und in den Kaukasus zogen. – Nach den drei großen deutschen Auswanderungswellen des 19. Jh. (1846-57, 1864-73, 1880-93) – die natürlich nicht nur, ja nicht einmal hautpsächlich von Ulm ausgingen –, schwächte sich der Auswanderungsdruck infolge der guten Wirtschaftsentwicklung nach 1893 erst einmal ab, um nach dem Ersten Weltkrieg erneut anzusteigen und 1923, im Jahr der Hyperinflation, mit weit über 100.000 deutschen Auswanderern einen Höhepunkt zu erreichen. Dabei wandten sich viele Emigranten den Ländern Mittel- und Südamerikas zu, die zu diesem Zeitpunkt einen wirtschaftlichen Aufflug zu nehmen und zugleich weniger starke kulturelle Anpassungsleistungen zu fordern versprachen als etwa die USA. Hinzu kam, daß die USA in den ersten Nachkriegsjahren nur wenige Einwanderer und insbesondere kaum Deutsche aufnahmen, was sich erst ab 1922 und dann auch nur sehr kurz änderte. Kanada blieb den Deutschen bis 1923 verschlossen, Australien und Neuseeland sogar bis 1925 bzw. 1928. 1923 allerdings, im Aufbruchsjahr der Kürschners, konnten sich knapp 80% der insgesamt mehr als 115.000 Ausreisewilligen Richtung USA einschiffen, nur knapp 7% gingen nach Argentinien, fast ebensoviele nach Kanada. Schon 1924 sank die Gesamtzahl deutscher Auswanderer wieder auf ca. 58.000, was auch mit einer erneuten, einschneidenden Reduktion der amerikanischen Immigrationsquote (nicht nur, aber eben auch für Deutsche) zusammenhing: Lateinamerika nahm in diesem Jahr mehr Einwanderer auf als die USA, wobei Brasilien und Argentinien an der Spitze standen, während Peru als Aufnahmeland für Europäer weit weniger in Erscheinung trat denn für Japaner; zweifellos auch aufgrund seiner geographischen Lage. Wie allen anderen lateinamerikanischen Ländern waren ihm aber die europäischen Ankömmlinge kulturell wie ökonomisch willkommen. Der durch einen Putsch an die Macht gelangte, und durch Verfassungsmanipulationen an der Macht sich haltende, peruanische Präsident Augusto B. Leguía (19.2.1863-6.2.1932; Regierung 1919-1930, das sog. Oncenio oder Elfjahresregiment; zuvor bereits 1908-1912) sah in ihnen Motoren der von ihm mit Hilfe ausgedehnter US-amerikanischer Anleihen vorangetriebenen Modernisierung. Aus dem Ausland wurden namentlich Landwirte angeworben, auf daß sie auf den kurz zuvor mit Bewässerungskanälen versehenen staatlichen Ländereien Baumwolle anbauten. Dafür streckte man ihnen die Reisekosten vor und gewährte Subsidien wie Samen, Werkzeug und Geld bis zur ersten Ernte. – Unter den Herkunftsregionen der deutschen Auswanderer in der Zwischenkriegszeit waren einerseits Hamburg, Bremen und der gesamte Nordwesten Deutschlands, andererseits Bayern, Württemberg und Baden – und damit in gewisser Weise auch wieder Ulm – überrepräsentiert (s. Michel Hubert: Deutschland im Wandel: Geschichte der dt. Bevölkerung seit 1815. Stuttgart 1998, S. 247-250). Friedel Kürschner war also in mancher Hinsicht ein typischer Auswanderer: Er kam aus einem der Hauptauswanderungsgebiete, er brach im Spitzenjahr der Wirtschaftsmigration auf, und er gehörte mit seinem forst- und vermutlich landwirtschaftlichen Studium zu den meistumworbenen Berufsgruppen. Untypisch ist dagegen sein Wanderungsziel Peru.

8 Man kann nicht umhin, sich vorzustellen, wie die Empfängerin des Briefes sich von diesen Neuigkeiten überrumpelt fühlen mußte. Sie muß gleich doppelt überrascht gewesen sein: von den Plänen als solchen – und von ihnen noch besonders insofern, als verschiedene Andeutungen in den vorausgehenden Briefen darauf hinzuweisen schienen, daß Friedel im Zusammenhang mit der Stellensuche seine ganz eigenen Auslands- und evtl. Auswanderungspläne verfolgte (Briefe 6, Z. 6f.; 7, Z. 12). Merkwürdig berührt, daß er diese hier mit keiner Silbe mehr erwähnt, die im Zusammenhang mit ihnen stehende, zweimal angekündigte (Briefe 3, Z. 90; 7, Z. 12) Berlin-Reise in Z. 34 lapidar für hinfällig erklärt und keinerlei Bedauern oder Widerstreben angesichts der in seine Lebensplanung so plötzlich und tief eingreifenden väterlichen Entscheidung erkennen läßt, die nicht zuletzt das in der Vergangenheit oft sehnsüchtig beschworene Wiedersehen mit Käthe und ihrer Familie durchkreuzte, welches nun Z. 33 ebenfalls sang- und klanglos abgesagt wird. Im Gegenteil, er scheint sehr einverstanden damit, die mehrfach in diesem Brief (Z. 20ff. 26f. 43-45. 48f.) angesprochenen schwierigen Verhältnisse im Deutschland der Hyperinflation hinter sich lassen zu können (Z. 38f. 49f.). Käthe muß ihm recht enttäuscht geantwortet haben; vgl. Brief 9, Z. 12ff.

9 Auch dies ein beredtes Zeichen der Massenauswanderung.

10 Fehlender Absatzeinzug sic.

11 Hans war als zweites Kind von Hermann und Marie Utermöhlen der nächstjüngere Bruder Käthes (s. Einleitung). Wie Friedel (obgleich ein bis drei Jahre jünger) war er 1917 in den Krieg eingezogen worden, in dem er bei der Marine in Wilhelmshaven diente. 1937 arbeitete der studierte Chemiker, 1924 zum Dr. ing. promoviert (s. Brief 12, Z. 39 mit Anm.), laut der Familien-Stammliste (s. Einl.) in der (1847 gegründeten) Zuckerfabrik Glauzig-Köthen. Ob er hier bereits 1923, in diesem eigentlich katastrophischen Wirtschaftsjahr (welches gleichwohl den Zenit der Produktionsleistung jener Fabrik markierte), Anstellung fand (und deshalb scherzhaft als «Zuckerdirektor» apostrophiert wird), etwa in Gestalt eines studien- oder forschungsbegleitenden Praktikums – was in dieser Zeit schon als Glücksfall gelten mußte –, bleibt unklar. Nach seiner Promotion heuerte er jedenfalls zunächst 1925 bei den Chemischen Werken Baierbrunn südlich von München an, wo er noch selbigen Jahres, am 10.10.1925, die Münchnerin Rosina, genannt Rose, Binder (13.8.1907-?) heiratete. Nach 1927 arbeitete er dann in leitender Funktion in der Zuckerfabrik Glauzig. Als am 26.10.1938 die Firma Eibia GmbH für chemische Produkte als Tochterunternehmen der seit 1815 bestehenden Pulver- und Chemiefabrik Wolff & Co. (heute Wolff Walsrode AG) gegründet wurde, wechselte Hans Utermöhlen in eine ebenfalls leitende Stellung in der Verwaltung und Arbeitsorganisation am Eibia-Standort Benefeld nahe Walsrode. Möglicherweise hatte er schon seit Juni 1935 am Aufbau der Eibia mitgewirkt. Die Firma stellte Schießpulver und andere Sprengstoffe her und war dem Reichswehrministerium unterstellt. Neben ihren insgesamt fünf Produktionsanlagen unterhielt sie auch Arbeitersiedlungen, Lager der Organisation Todt, einer paramilitärischen Bautruppe für militärische Anlagen, die neben Freiwilligen Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und seit Kriegsbeginn auch Kriegsgefangene einsetzte, und ein allerdings nur sechs Wochen des Jahres 1944 lang bestehendes Außenlager des KZ Bergen-Belsen, das sog. Lager Benefeld (oder Sandberg), in dem polnische Jüdinnen zur Arbeit in der Pulverproduktion sowie im Gleisbau für die Eibia-Werkbahn gezwungen wurden. Auf einem Familienphoto vom Frühjahr 1933, das anläßlich der Taufe seines Neffen Peter (geb. 28.12.1932, Sohn von Käthes und Hans’ Bruder Wilhelm Utermöhlen) entstand, trägt Hans bereits das Braunhemd mit Hakenkreuzbinde. Um 1944/45 siedelte er mit seiner Familie nach Speyer über, wo er allem Anschein nach wieder in einer Rüstungsfabrik tätig war. Nach dem Krieg kam er zunächst bei seiner Ursprungsfamilie in Weferlingen unter, da er wegen seiner Kompromittiertheit vermutlich einem Arbeitsverbot unterlag, bis er 1950 nach Oberbayern (Irschenhausen) und in die Berufstätigkeit in einer chemischen Fabrik zurückkehren konnte. Er starb, erst 62jährig, am 17.10.1960.

12 Maria war eine Schwester von Friedels Vater und die Frau Karl Utermöhlens, eines Onkels von Käthe (s. Einl.; Brief 3/Anm.en 18.20.27).