Persönliche Zusammenfassung und Deutung der Dokumente

Der Anstoß zu dieser Erforschung der Vergangenheit von Fritz wurde bereits genannt und bezog sich zunächst nur auf die Vorgänge in den Jahren 1941 bis 1945. Später wurde mir aber klar, dass erst mit dem vollständigen Konvolut an „Archivalien“ die Frage meiner Generation an ihre Eltern, „Wie war es für euch im NS-Deutschland?“ zumindest teilweise beantwortet werden konnte, eben gerade für mich, der diese Frage nie gestellt hatte.

Zusätzlich zu diesem Thema gab es aber auch die Möglichkeit, die persönliche Entwicklung eines Menschen, der die grossen Umbrüche vom Ende des 1. Weltkriegs bis hin zum Ende des 2. erlebt hat, anhand von Briefen und einigen Aufzeichnungen zu erahnen. In den Briefen Fritz‘s stand immer Literatur und Bühne im Brennpunkt, später aber auch seine Interessen für die zukünftige Arbeit eines Psychiaters.

Eine Motivation für die Transkription der Briefe, zunächst nur die von Fritz an Lisa, war auch, den grossen Bestand zu archivieren und als Zeitdokument zugänglich zu machen. Das gilt auch für einige Vortragsmanuskripte und Aufsätze. Die Briefe enthalten natürlich zum grossen Teil rein private Dinge, ausgewählt wurden nur allgemein interessierende Inhalte, wie das Erleben von Kultur, Meinungen zu Zeitfragen, Gedanken zum zukünftigen Beruf als Mediziner und leider nur sehr wenig über Politisch-Gesellschaftliches der Weimarer Zeit. Es ist für Fritz bezeichnend, dass seine Weltsicht teilweise aus seinem Empfinden für Literatur und Bühne (Schauspiel und Oper) beeinflusst wurde.

Die frühe Begegnung mit der Literatur begann bereits im Alter von 7 - 8 Jahren (siehe sein Lebenslauf). Dies führte dann zu eigenen Schreib- und Dichtereien ungefähr im Alter von 14. Die Stimmung der Kriegs- und Wendezeit 1918 ist in diesen Gedichten deutlich hörbar. Siehe die Gedichtsammlung aus dieser Zeit, die zum Teil noch eine kriegerisch patriotische Stimmung wiedergibt, sicherlich übernommen aus Fritz s Umgebung, wie Elternhaus und Schule, aber eben auch aus dem ihn interessierenden literarischen Umfeld. Prägend war damals die Begegnung mit dem lyrischen Werk von Ina Seidel, die er auf einer Lesung in Braunschweig 1917 hörte. Seidels Kriegslyrik, z.B. „Neben der Trommel her“ von den 1915, war sicher auch Vorbild für seine eigenen Dichtungen in den Jahren 1918-21.

Fritz letzte Schuljahre, 1919 – 1922, fielen in eine Zeit grosser Umbrüche in politischen und kulturellen Bereichen. Die Schulaufsätze, die in Unter- und Oberprima von Fritz 1919 – 1921 geschrieben wurden, enthalten mehrfach Gedanken zum verlorenen Krieg und den Zielen eines zukünftigen Deutschlands das den Niedergang der Kultur der Nachkriegszeit überwinden müsste. Ein Beispiel dafür ist der Aufsatz vom November 1919. Es gab aber auch eine Phase der Neuorientierung in Richtung einer pazifistischen Einstellung  und ein Interesse am literarischen Expressionismus. , beides vielleicht ein Zeichen der Unsicherheit in diesen Zeiten. Die Grundeinstellung blieb dann aber doch konservativ in sozio-kultureller Hinsicht mit einem Hang zu Kulturpessimismus Die Beschäftigung mit den Schriftstellerrinnen, wie Seidel, Miegel und dem Balladen Dichter Börries v. Münchhausen #V4bestärkte Fritz in seiner Hinwendung zu der Idee eines bodenständig deutschen Lebens mit einem ausgeprägten Sinn für eine „Sippenzugehörigkeit“. Vereinfacht ausgedrückt zählten diese Schriftstellerinnen zu den literarischen Vordenkerinnen von Ideen, die von den NS-Ideologen zum Gebot von „Blut und Boden“ benutzt wurden. Folgerichtig wurden sie dann auch in die Liste der „Gottbegnadeten“ Künstler aufgenommen.

Aus einigen Stellen in Briefen aus der Studienzeit in Berlin geht bisweilen die Abscheu vor einer grosstädtisch, bunten Gesellschaft hervor, gleichzeitig bestand wohl aber auch eine Neugier daran, als angehender Psychiater einiges von diesem Verhalten erklären zu können.

Auch das Unbehagen an „jüdischen Kultureinflüssen“ wird aus mehreren Bemerkungen erkennbar, am „penetrantesten“ in einem Absatz des Briefs vom 12. 11 1928:

 „… Er (der Briefschreiber) schwimmt so überaus munter im großen Strom, daß Großstadtmüdigkeit überhaupt „jar nich“ in Frage kommt. Nur, daß er vielleicht noch eine Nuance kritischer dem bunten Tingeltangel Berliner Kunst- und Geisteslebens gegenübersteht. So z.B. fallen ihm sichtlich die Juden auf seine arischen Nerven, die wie schwarzes Unkraut alles bisher blonde Gewächs in Hörsälen und Lehrkanzeln überwuchern. Tatsächlich, das Problem des Antisemitismus ist mir nie so nahe gerückt wie in diesen ersten Tagen beginnender Semesterarbeit und obwohl ich wohl nie zum Hakenkreuzler werde, benimmt mir die Penetranz des semitischen Wesens mitunter ein wenig den Atem.“

 Vielleicht trugen diese Eindrücke dieser Studienzeit in Berlin, bei aller Vorliebe für die kulturellen Verlockungen dieser Stadt, dazu bei, dass Fritz im Oktober 1929, kurz nach Semesterbeginn fluchtartig Berlin verliess , um in Göttingen sein Studium zu beenden.

1934 konnte Fritz nach einer Festanstellung als Anstaltsarzt in Neu-Haldensleben Lisa Utermöhlen heiraten. Er strebte immer eine beamtete Lebensstellung in einer staatlichen Institution an, also trat er auf Anraten eines Vorgesetzten 1933 in die S.A. ein. Ob dies damals zwangsläufig nötig war, sei dahin gestellt. Sein Kollege und Vorgesetzter an der Landes Heil- und Pflegeanstalt Königslutter, Dr. K. Schlüter, war nie Mitglied in einer NS-Organisation! Auch die spätere korporative Mitgliedschaft in NSDAP war für Fritz wohl nie ein grosses Problem, die Sicherheit der Beamtenstellung schien wichtiger zu sein. Die Dokumente aus dem Berufsleben von F.B. werden hier nicht wiedergegeben.

1928 begann Fritz sich mit Familienforschung zu beschäftigen und fertigte eine Stammtafel für die Familie Barnstorf aus Forschungen im Staatsarchiv Wolfenbüttel an. Dies führte dann 1937 zur Gründung eines Vereins des „Famiĺienverbands der Sippe Barnstorf“. Die Begrüssungsrede  zeigt nun in klaren Worten, in aller Öffentlichkeit die Einstellung Fritz Barnstorfs zu der „Blut und Boden“ Ideologie der Nationalsozialisten. Dieser späte Fund in den überlieferten Schriftstücken widerlegt eine ursprüngliche Annahme, dass Fritz nie etwas mit den Zielen der NS zu tun haben wollte. Die sachlich neutrale Sicht auf die Familien- und Heimatforschung, die Fritz in seinen jüngeren Jahren hatte, war einer Akzeptanz der NS-Ideen gewichen. War es eventuell nur ein Opportunismus, um im politischen Umfeld die Bedeutung seiner Familienforschungen zu untermauern? Er dachte in der Zeit von 1938/39 daran, die Auszeichnung einer „Altbauernehrung“ für den Atzumer Stammhof zu erreichen, was aber in den Anfängen 1939 stecken blieb, der Kriegsbeginn beendete auch die Aktivitäten des „Familienverbandes Barnstorf“.

Es ist aber sicher so gewesen, dass Fritz sich als Psychiater intensiv mit den Denkmustern der damaligen Zeit, Erbbiologisch- Genealogische Etnographie und ähnlichen Forschungsgebieten beschäftigt hat, was der Aufenthalt am „Forschungsinstitut für Psychiatrie München“ zeigt. Fritz Barnstorf trat früh in den NS-Ärztebund ein und wurde 1938 zum Mitarbeiter im Rassenpolitische Amt für den Kreis Haldensleben berufen. Die anderen Aufgaben eines beamteten Arztes in einer Anstalt schilderte er in dem Gesuch zur Wiederanstellung 1946 (vollständig in den Dokumenten der Schenkung):

 „...Dass ich 1939 zum Mitarbeiter des Rassepolitischen Amtes vorgesehen wurde, verdanke ich dem Umstand, dass ich seit 1937 in der Landesheilanstalt Haldensleben die erbwissenschaftliche Bearbeitung der Krankengeschichten im Rahmen der sog. erbbiologischen Bestandsaufnahme zu erledigen hatte. Diese Anlage von Sippentafeln und Karteikarten aller Kranken und ihren Angehörigen war allen Gesundheitsämtern und Anstalten seit 1935 vorgeschrieben und diente u.a. auch der Eheberatung durch die staatlichen Gesundheitsämter, die mit den Anstaltseinrichtungen eng zusammen arbeiteten. Im Zuge der allmählichen Ersetzung staatlicher Dienststellen durch Parteiämter wollte man den Rassepolitischen Ämtern, die auch mit der erbgesundheitlichen Beurteilung gewisser Personengruppen wie z.B. kinderreicher Familien betraut waren, sogen. Sippenämter angliedern, von denen dann alle einschlägigen Arbeiten der Eheberatung und Erbgesundheitspflege, die bis dahin den staatlichen Gesundheitsämtern überlassen waren, übernommen werden sollten. Aus diesem Grunde berief man auch die Bearbeiter psychiatrischer Sippenkarteien als ärztliche Mitarbeiter in das Rassenpolitische Amt, darunter für den Kreis Haldensleben 1938 auch mich. Eine offizielle Bestätigung der formlosen Mitteilung, dass man mich „vorgesehen“ habe, habe ich nie erhalten. Ich habe die Mitarbeit deswegen nicht abgelehnt, weil ich aus eigener beruflicher Erfahrung nur zu gut den Schaden abschätzen konnte, der durch wissenschaftlich völlig ahnungslose „Mitarbeiter“, meistens Lehrer, auf dem der Erbgesundheitspflege angerichtet worden war, und ich glaubte, durch meine Fachkenntnisse hier nützlich sein und Borniertheiten verhüten zu können. … „

 Daraus geht, etwas versteckt, hervor , dass Fritz Barnstorf durchaus ein Interesse an den erbgesundheitlichen Fragen hatte – er sagte nicht nein, um als Fachmann Fehlentwicklungen abzuwenden, eine in anderen Zusammenhängen von Anderen vielfach benutzte Erklärung. Wahrscheinlich hat er auch zur „Erbgesundheit“ Vorträge für Interessierte gehalten, aber es ist nichts überliefert.

 Der zunächst unerklärliche Vorgang einer „Requirierung“ von Fritz Barnstorf für die HAK in Königslutter, die direkt vom Abteilungsleiter Dr. Hefelmann im Hauptamt II b, Kanzlei des Führers, angeordnet wurde, ohne über irgendwelche Dienstwege zu gehen, deutet darauf hin, dass Fritz über seine Kontakte zu den Forschungen in München ( Rüdin) und evtl. durch eine Empfehlung von Dr. Meumann ausgewählt wurde. (Meumann war, wie alle Anstaltsleiter über die streng geheime Krankenmord Strategie durch persönlichen Besuch in der Tiergartenstrasse 4 (T4) informiert worden.) Es ist nicht klar, ob sich Fritz zunächst über die Hintergründe dieser Personalentscheidung im klaren war.

Ihm ist wohl zunehmend bewusst geworden, daß die militärische Nutzung deutscher Psychiatrien durch Reservelazarette ab Mitte '40 Teil eines größeren Plans zur radikal neuen Behandlung psychisch kranker Menschen wurden. 1940 war die Meinung des nicht in die streng geheimen Pläne der „Aktion Tiergartenstrasse 4“ eingeweihten Personals der Heilanstalten, daß die „Verlegungen“ der Patienten mit einem Einsatz in entfernten Arbeitseinrichtungen zu tun hätte. Dies waren auch wohl anfangs die Überlegungen von Fritz. Spätestens aber Ende 1940, besonders wohl auch durch Gespräche bei Dienstbeginn in Königslutter mit Müller und Meumann angeregt, kam dann sicher bei ihm der Verdacht auf, daß die Verlegungen und Durchleitungen von Kranken, in Königslutter aus Hamburg-Langenhorn, mit Mordaktionen zusammenhängen mußten. Dies belegen seine Aussagen im Ermittlungsverfahren der Jahre 1948-50. Er versuchte wohl, wie auch andere Ärzte in dieser Zeit, über die „Nützlichkeitsbeurteilungen“ von Patienten, die Abtransporte zu verhindern. Darunter waren die Patienten CarlSchütt und Prostmeyer, aus Hamburg 1941 kommend. (Einzelheiten in Briefen von 1941, Bestandteil der Schenkung)

Alle in der Anstaltspsychiatrie tätigen Ärzte dieser Zeit gelangten zwangsläufig in den Konflikt , zugespitzt formuliert, sich durch konsequente Verweigerung einer „Verstrickung“ in die Mordaktionen zu entziehen, oder einen „Befehlsnotstand“ zur Mitarbeit bei den Aktionen zur Entlastung zu nennen.

Nach dem Einstellen der „T4-Aktion“ im August 1941 verblieben Patienten in einer durch Reservelazarett, Behelfskrankenhaus und aus Braunschweig Evakuierten völlig überfüllten Anstalt. In den nächsten 3 Jahren gab es eine hohe Sterberate, die in einem späten Ermittlungsverfahren untersucht wurde. Es ließ sich nicht klären, ob eine planmäßige Tötungsaktion durch Nahrungsentzug oder Medikamentengabe stattgefunden hatte. Diese Zeit wurde jüngst detailliert recherchiert und veröffentlicht in: „Susanne Weihmann, Krankenmorde in der Heilanstalt Königslutter, Braunschweig , 2021“, und mit diesem Material eine Ausstellung in der „Gedächtnisstätte Schillstrasse“ veranstaltet: „Königslutter und der Krankenmord“, September/Oktober 2022.

Fritz Barnstorfs Haltung zum Nationalsozialismus war nicht eindeutig, er unterstützte aber offenbar die „erbgesundheitlichen Massnahmen“ von der Grundidee einer Vermeidung erblicher Geisteskrankheiten, ohne anfangs zu ahnen, welche Grundlage diese wissenschaftliche Fachrichtung der „psychiatrischen Genealogie“ für die planmässige Ermordung geistig Kranker bedeutete. (Er nahm freiwillig die Mitgliedschaft im „Rassepolitischen Amt“ an) Aus Ahnungen noch in seiner Zeit in Neu-Haldensleben wurde ihm dann im November 1940 klar, dass für die Vernichtungsaktionen eine systematische Planung und deren Ausführung auch in Königslutter begonnen hatte (siehe oben). Insofern zählt er zu der grossen Zahl der gut ausgebildeten Menschen, die nicht direkt die menschenverachtende Politik des NS unterstützten, die aber mit ihrer Haltung dazu beitrugen, dass das NS-System stabil wurde und blieb.

Kurz zusammengefasst war F.B. zweifelsfrei ein Opportunist, der auch deckungsgleich zur NS-Linie eine „Blut- und Bodenideologie“ gut hiess. Diese emotionale Haltung zum „Bauernwesen“ hat er vermutlich nach dem Kriege zugunsten einer rationaleren Sicht aufgegeben, aber wie so vieles, ist dies Spekulation.

Die Briefe, die F.B. aus der Internierungshaft 1945/46 schrieb (In der Schenkung enthalten), geben an manchen Stellen den Zwiespalt zwischen Kritik am vergangenen NS-System und einem „es waren doch auch anständige Leute in der Partei…“ wieder. Die eigentliche persönliche Problematik eines Arztes, der sich in einem mörderischen „Medizin“-System bewegen musste , wird aber nie direkt deutlich, bewegt wird sie F.B. aber sicherlich haben, darüber geredet hat er auch später nie. In einigen Vorträgen, die er in den1950‘er Jahren in den Volkshochschulen Helmstedt und Königslutter hielt (Abschriften in Planung) wie z.B. „Das Problem der Todesstrafe“ ,Grenzgebiete zwischen Medizin und Religion“, oder „Der heutige Mensch und die Angst“ wird einiges zur Medizin und Justiz im NS-Staat gesagt, zwar nur in kurzen Zeilen, aber in Erkenntnis der furchtbaren Entwicklung dieser Jahre.

Bereits 1946/48 hatte sich F.B. die gerade erschienenen Bücher „Das Diktat der Menschenverachtung“ von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke über den „Nürnberger Ärzteprozess“ und das erste Werk über das System der Konzentrationslager „Der SS-Staat“ von Eugen Kogon besorgt. Vielleicht führte die Lektüre dieser beiden Werke bei ihm zu einem gewissen „Schuldbewusstsein“ in einem menschenverachtenden System mitgearbeitet zu haben, das bleibt aber eine Spekulation. Der in „Meine Erinnerungen… “ zitierte Ausspruch „...wir sind das Volk von Goethe und Schiller nicht mehr!“ war wahrscheinlich eine Reaktion auf diese Dokumentationen...

Wir als Deutsche tragen eine historische Last, jeder sicherlich auf unterschiedliche Weise. Diese Last hat bei den Generationen der „Nachgeborenen“ nichts mit einer Verantwortlichkeit für die Geschehnisse in dunkler Zeit zu tun. Wohl aber wie bei mir und vielen anderen, die Last durch nicht geführte, oder führbare, Gespräche mit Eltern-und Grosseltern über die Zeit des moralischen Verfalls einer Gesellschaft. Diese „geschichtliche Last“, von der der Publizist Ralph Giardano in seinem Buch „Die zweite Schuld oder die Last ein Deutscher zu sein“ spricht, durchzieht die Nachkriegsgeschichte Deutschlands.