Blicke in die Vergangenheit der Familie Barnstorf, Chronologie der Nachforschungen

 Dies ist die chronologische Beschreibung der Beschäftigung mit der Vergangenheit der Familie, insbesondere die meines Vaters mit einigen Zwischenergebnissen. Sie beginnen 2008 und enden erst 2022 mit einem Gesamtbild.

 -I- Begegnung mit einer unbekannten Vergangenheit

 Meine Frau und ich waren im Frühjahr 2008 bei den Rittgerodts in Königslutter eingeladen.

Dr. Klaus Rittgerodt, ein guter Freund seit der Schulzeit, war lange Jahre praktischer Arzt und ist 2011 verstorben.

Klaus fragte mich damals, ob ich mal wieder im NLK (Niedersächsisches Landeskrankenhaus) gewesen wäre, und dort eine Gedenkstätte für die Euthanasieopfer gesehen hätte. Es gäbe auch eine Denkschrift zu diesen Vorgängen der '40er Jahre an der HAK(Heilanstalt Königslutter) mit dem Titel „...mein lieber Papa“1.

Zum Landeskrankenhaus hatte es für mich, der dort mit meiner Familie von 1941 bis 1965 in einer Dienstwohnung meines Vaters gewohnt hatte, schon seit Jahren keine Kontakte mehr gegeben. Die Erinnerung an eine schöne und in gewisser Weise „abenteuerliche“ Kindheit auf dem Gelände des Krankenhauses war aber immer prägend vorhanden.

 Im Hintergrund aber stand bewusst, unbewusst oder verdrängt eine zentrale Frage meiner Generation: „Wie war es für euch unter dem System des Nationalsozialismus?“ Diese Frage habe ich, anders als meine älteste Schwester, nie gestellt. So war die Erzählung von Klaus für mich eine Art „Wecksignal“, mich mit der noch viel spezielleren, nicht gestellten Frage an meinen Vater zu beschäftigen: „Wie bist du mit der Euthanasie an der HAK umgegangen?“. Meine Frau hatte dann die Denkschrift über eine uns bekannten Psychologin des Niedersächsischen Landeskrankenhauses (NLK) besorgt und ich konnte mich mit dem Thema beschäftigen.

Nach einer kurzen Lektüre der Schrift war mir klar, dass ich, mit Hilfe der Berichte und Literaturquellen dieser Studie, in eine mir unbekannte Vergangenheit der HAK und seiner Mitarbeiter blicken konnte. Die meisten der darin genannten Namen waren mir aus der Erinnerung bekannt. Bezüge zu meinem Vater waren natürlich auch vorhanden, so Zitate aus einer Festschrift zum 100 jährigen Bestehen des NLK im Jahr 1965, die mein Vater redaktionell betreut und mit einem Aufsatz über die Geschichte des Krankenhauses versehen hatte. Die Zeit der Kriegsjahre wurde hierin sehr nebelhaft als schlimmer und dunkler Abschnitt erwähnt, ohne auf Einzelheiten einzugehen.

In einem Beitrag über Ermittlungsverfahren zu Tatbeständen der Euthanasie wurde über ein letztes Verfahren aus den frühen '70er Jahren berichtet. Darin wurde ein Arzt mit dem Kürzel „Ba.“ erwähnt, was mich sofort stutzig und bestürzt machte.

Im März 2008 sichtete ich dann die Akten der Ermittlungsverfahren 1949-1950 gegen meinen Vater und den damaligen Anstaltsdirektor Dr. Meumann wegen Mithilfe bei den Euthanasieaktionen in den Jahren 1940-1941 und den darauf folgenden, vermuteten Morden der „kalten Euthanasie“. Dies Verfahren wurde 1950 wegen Mangels an Beweisen eingestellt. Die in der Denkschrift zitierten späten Ermittlungen konnte ich ebenfalls in den Akten am Landesarchiv Hannover einsehen. Die Recherchen verstörten mich sehr.

Gegen meinen Vater und andere ehemalige Mitarbeiter der HAK im Jahr 1974 ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes an Anstaltspatienten eingeleitet und dann wegen Mangels an Beweisen eingestellt worden. Auf Einzelheiten dieser Gerichtsverfahren will ich hier nicht eingehen.

Trotz engster Kontakte zu meinem Elternhaus in diesen Jahren, waren mir zunächst keinerlei Hinweise zu diesem Vorgang aufgefallen.

Bei genauerem Rückerinnern dieser Jahre fiel meiner Frau wieder eine kurze Beobachtung ein. Mein Vater hätte damals bedrückt im Wohnzimmer gesessen, meine Mutter an seiner Seite hielt seine Hand und hätte gesagt: „... das kriegen wir schon wieder hin ...“. Auch mir kam die damalige, sehr depressive Stimmung meines Vaters wieder in den Sinn. Einmal, auf eine kurze Frage hin, was ihn bedrücke, kam als Antwort „... ach wenn ihr wüßtet...“. Näheres war nicht zu erfahren.

Es folgten lange Gespräche mit meinem Freund Klaus über die Schwierigkeiten einer Kommunikation mit unseren Eltern über die Zeit des Nationalsozialismus. Er erinnerte mich dabei auch an einen Besuch unseres gemeinsamen Schulkameraden Walther Meumann Im Jahr 1994. Walther war mein enger Freund aus den Kindertagen an der HAK, der damals Kindheitserinnerungen auffrischen, aber wohl auch mehr von der Geschichte seiner Eltern in der Zeit erkunden wollte. Das ist mir damals nicht so klar gewesen, wurde mir aber im nachhinein ganz deutlich, als Klaus mich an die Bemerkungen Walthers zu seiner Mutter erinnerte. Walther hatte in dem Nachlass seiner Eltern Bemerkungen seiner Mutter gefunden, die den späten Einsatz seines Vaters „an der Ost-Front“ lobte. (Dr. Meumann war noch 1944 zum Einsatz in östlichen Gebieten abgeordnet worden und blieb aber noch an der Anstalt angestellt).

Im Hintergrund stand damals auch schon die Frage nach der Funktion meines und Walthers Vater an der Anstalt in den '40er Jahren.

Ich sah aber1994 und in den Jahren davor keinen Anlass für eigene Nachforschungen, mir fehlten damals einfach die Anfangspunkte. Vielleicht lag es auch an einer gewissen „intellektuellen Autorität“ die er bei mir besaß:

Mein Vater, der 1982 gestorben ist, war auf vielen kulturellen Gebieten mein Mentor, oder auch eine Art Leitfigur. Die „Belesenheit“ in klassischer und moderner Literatur machten mir Eindruck. Auch die Geschichten und Romane der Science-Fiction von H.-G. Wells bis Ray Bradbury wurden mir von ihm empfohlen und beeinflussten mich in meinem Interesse an den Raumfahrtfantasien der '50er Jahre. Seine Leidenschaft für den Kinofilm war groß. Er war einige Jahre Mitorganisator des Filmklubs-Königslutter, der regelmäßig die großen Filme des europäischen und amerikanischen Kinos zeigte, was mich als frühen Kinogänger geprägt hat. Erstaunlicherweise waren auch zwei Filme im Programm, die schonungslos die Greuel in den KZ's des NS-Regimes schildern. Sie gelten bis heute als Meilensteine in der filmischen Aufbereitung der NS-Zeit. Es sind Alain Renais „Bei Nacht und Nebel“ (1956) und Erwin Leisers „Mein Kampf“ (1960). Resnais schildert in der halbstündigen Dokumentation die Verschleppung von Widerständlern aus dem besetzten Frankreich in deutsche KZs, Leiser in einem langen Dokumentarfilm die Entwicklung Deutschlands zum Regime des Nationalsozialismus. Beide Filme wurden kurz nach den Erstaufführungen in Deutschland im "Filmklub Königslutter" gezeigt. Zu Gesprächen mit meinem Vater über die Inhalte der Filme ist es merkwürdigerweise nicht gekommen.

Meine älteste Schwester hatte dagegen Ende der '60er Jahre mehrfach versucht, sich mit meinen Eltern über ihre Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus zu unterhalten. Es wurde aber immer ausweichend reagiert, meine Mutter sagte einmal „... ach Kind das verstehst du nicht ..“. Mein Vater meinte zu seiner politischen Haltung 1933, er hätte damals die NSDAP nicht gewählt, sondern die National-Liberalen der DVP. Eine Bemerkung machte mich damals stutzig, als mein Vater meinte, er würde in keine politische Partei eintreten - 1956 war er für die „Unabhängige Wählergemeinschaft, UWG, kurzzeitig Mitglied des Stadtrates von Königslutter. Ich fragte aber nicht: „Warst du vielleicht einmal in der NSDAP?“, eine Frage, die mir dann später aus Dokumenten beantwortet wurde.

Zunächst schrieb ich eine persönliche Rückerinnerung an meine Kindheit und Jugend in der Dienstwohnung der Eltern auf dem Gelände der psychiatrischen Klinik in Königslutter. (siehe den Text "Erinnerungen")  Die weiteren Recherchen für eine Lebensgeschichte meines Vaters und deren Niederschrift unterblieben, weil ich keine Idee zu deren Veröffentlichung hatte.

-II- Die zweite Suche nach der Vergangenheit

Ich versuchte es im Mai 2015, noch einmal, und nahm die Nachforschungen im Landesarchiv Wolfenbüttel wieder auf. Die Motivation dazu rührte her von der Installation des „Mobilen Denkmals für die Euthanasie-Opfer des Nationalsozialismus“ in Braunschweig, und eine damit verbundene Ausstellung über die Vorgänge in psychiatrischen Einrichtungen im Braunschweiger Land.

.(siehe auch http://www.dasdenkmaldergrauenbusse.de/)

Mai 2015 - Die Feierlichkeiten zur 70sten Wiederkehr des Endes des Zweiten-Weltkriegs wurden begangen -und ich hatte vor einigen Tagen Schriftstücke eingesehen, die beinahe tag-genau vor 70 Jahren die „Internierung“ meines Vaters dokumentierten.

Ich bekam aber durch Zufall wieder eine Möglichkeit wesentlich tiefer und persönlicher in das Leben meiner Eltern vor 75 Jahren zu blicken.

Im September hatte ein Freund meines Sohns einen kurzen Artikel über die Familie Barnstorf geschrieben, der vor allen Dingen die Verstrickung meines Vaters in die „Euthanasie“-Vorgänge an der Heilanstalt Königslutter thematisieren sollte. Er bat mich um persönliche Bemerkungen zu diesem Thema und bekam auch einige Bilder aus Familienfotoalben. Der kurze, zweiseitige Report soll im Dezember 2015 in der Zeitschrift „Mensch – Magazin“ erscheinen.

Ich war bald der Ansicht, dass die Begrenzung auf einen so kurzen Beitrag der Problematik nicht gerecht wird und suchte zunächst nach weiteren Familienbildern der 1930er und '40er Jahre. Dabei stieß ich auf einen umfangreichen Briefwechsel meiner Eltern im Nachlass meiner Mutter. Ich wußte zwar immer, dass sie eine leidenschaftliche „Briefarchivarin“ war, hatte dies aber bei der Beschäftigung mit den amtlichen Archivinhalten vergessen.

Ich fand in den Briefsammlungen dann zwei Zeitabschnitte, die durch einen umfangreichen Briefwechsel dokumentiert sind: eine Zeit von Ende Februar bis November 1940, und von Juni 1945 bis März 1946. Das waren einmal die kurze Wehrdienstzeit meines Vaters und dann seine Internierungshaft nach Kriegsende.

Die Auswertung der Briefe gab mir dann einen tieferen Blick in die Gedanken und die Stimmungslage der Eltern im Kriegsjahr 1940. Auch die Abfolge von Ereignissen im Berufsleben meines Vaters als Arzt in diesem Jahr wird deutlicher. Der andere Zeitraum beleuchtet dann die Gefühle und Gedanken von Menschen in diesen Jahren des Umbruchs.

Eine neue, gründlichere Durchsicht der Personalakten meines Vaters gab mir dann noch weitere Informationen. (Die erste Recherche im Mai 2015 war sehr oberflächlich gewesen!)

Anhand der Informationen aus diesen beiden Quellen konnte ich doch etwas Genaueres über den beruflichen Werdegang meines Vaters als beamteter Arzt in den Jahren des Nationalsozialismus erfahren, ebenso auch über seine Einstellung zum NS-System und Ereignissen im Kriegsjahr 1940. Die Briefinhalte meiner Mutter beziehen sich natürlich hauptsächlich auf die Situation der Familie in diesen Jahren .

 -III- Abschluss der Nachforschungen

Die Nachforschungen zum Lebenslauf meines Vaters bekamen schließlich im Sommer 2017 noch einmal einen erneuten Anschub durch die Auflösung des elterlichen Haushalts im Haus der Familie in Königslutter. Das Haus wurde verkauft, nachdem die alleinige Bewohnerin, meine älteste Schwester, verstorben war. Einige Schränke enthielten weitere Familiendokumente, die mir in der Vergangenheit nicht aufgefallen waren.

 Dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde 2018 in zahlreichen Ausstellungen und Veranstaltungen gedacht. In Braunschweig gab es eine Reihe von Veranstaltungen, die dem Wechsel des Herzogtums Braunschweig zum Lande Braunschweig gewidmet waren und auch die kurze Zeit des revolutionären Geschehens thematisierten. Darunter war eine szenische Lesung mit dem Titel „Was verstehen Sie vom Krieg?“ inszeniert mit Musikern und Schauspielern des Braunschweigischen Staatstheaters von meinem Sohn Sebastian. Geschildert wurde die kulturelle Stimmungslage in diesen Zeiten des Umbruchs in Braunschweig. Zitiert wurden auch frühe Gedichte von Fritz Barnstorf mit seinen Gedanken zum Krieg aus dem Jahr 1917. Der Braunschweiger Schriftsteller Felix Riemkasten stellte ihm in einer Besprechung seiner Gedichte obige Frage. (siehe auch den Text zu Barnstorf und Riemkasten)

Dies gab mir, wie ich es auch schon vorher geplant und nie realisiert hatte den Anstoß eine umfassende Auswertung zu beginnen.

Mit einiger Verzögerung begann ich 2020 noch einmal alles überlieferte Material aus der Kindheit, Schul- und Studienzeit auszuwerten und zu einem dokumentarischen Lebenslauf zusammen zu stellen.

Besonders interessant darunter die Unterlagen der Familienforschung meines Vaters, der eine Stammtafel der „Sippe“ Barnstorf seit 1930 erarbeitet und 1937 einen „Familientag“ in Wolfenbüttel organisiert hatte. Sehr aufschlussreich ist eine Rede vor dieser Versammlung,  weil sie die Haltung von F.B. zum Nationalsozialismus in dieser Zeit klarer werden lässt.

1Mein lieber Papa,Angela Wagner, Jürgen H. Mauthe (Hrsg.)Königslutter 2003