Ein Blick zurück auf mein Leben in der Heil- und Pflegeanstalt Königslutter

Dieser Text wurde angeregt durch den Beginn meiner Ermittlungen zur Vergangenheit meines Vaters als Psychiater an der „Heilanstalt Königslutter“ in den 1940‘er Jahren. (siehe die Rubrik „Fritz Barnstorf“)

Das Gelände des Krankenhauses verteilt sich auf zwei Bereiche, ein Komplex mit einem großen Flügelgebäude und verschiedenen Patientenhäusern und Versorgungseinrichtungen südlich der Königslutterer Stiftskirche. Der zweite Bereich liegt mit seinen Einzelgebäuden in einem Parkgelände am sogenannten „Herzogsberg“ etwas oberhalb. In früheren Jahren, vor der großen Erweiterung des Krankenhauses von 1965 bis heute, war der untere Bereich nach oben mit einer durchgehenden Kastanienallee verbunden, der Gesamtentwurf einer historischen „Heilanstalt“ (Baubeginn 1865) .

 

Blick zum „Herzogsberg“ Kastanienallee beiderseits die Krankenhaus Villen (1936)

 Das Gesamtgelände wird vom Lutterbach durchzogen, der aus den Quellen und der historischen Brunnenstube am „Lutterspring“ gespeist wird. Südlich, direkt angrenzend, und an die Lutter angebunden, liegen ehemalige Fischteiche des Zisterzienserklosters der Stiftskirche. Dies alles bot in meiner Kindheit ein wunderbar abenteuerliches Spielgelände.

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Das Wohnhaus Nummer 2 (1964)

Familie Barnstorf wohnte von Anfang an im „Haus 2“, auf dem Villengelände am Herzogsberg. Die Familie war Ende 1940 von Neu-Haldensleben nach Königslutter umgezogen - mein Vater konnte in der „Heilanstalt-Königslutter“ eine frei werdende Stelle als Oberarzt in der Frauenabteilung übernehmen.

Erinnerungen an die Jahre 1941 bis 1943 sind bei mir natürlich nicht vorhanden, ich kam im Mai 1941 zur Welt. Manches aus dieser Zeit wurde mir aber von meinen älteren Schwestern erzählt und vermengt sich mit eigenen, unscharfen Bildern. Zu den frühesten Erinnerungen gehört unter anderem meine Betreuung durch eine „Kinderfrau“, eine Patientin aus dem Krankenhaus, Milda Jahnke. Es war damals und bis in die 1950'er Jahre hinein üblich, Haushilfen aus dem Patientenstamm zu beschäftigen. Spaziergänge an der Hand von Milda um unser Haus herum sind mir ganz dunkel erinnerlich. Milda Jahnke blieb auch dann im engen Kontakt zur Familie, nachdem mein Vater 1964 pensioniert wurde und die Familie 1966 die Dienstwohnung im Haus 2 verlassen mußte. Milda war noch oft bei Familiengeburtstagen und zu Weihnachten bis Anfang der '70er Jahre mit dabei. Sie starb ca. 1975.

Ganz von ferne (zum großen Glück!) hinterließ der Krieg einige Eindrücke:  Ganz bewusste, kurze Erinnerungssplitter sind die Gänge in den Hauskeller mit allen Bewohnern des Haus 2 bei Luftalarmen, die wohl von 1943 an vermehrt vorkamen. Ich kann mich noch deutlich an einen „Volksempfänger“ erinnern, der in einem Kellerraum stand, und ziemlich krächzend die „Luftlagemeldungen“ über die anfliegenden Bomberverbände der Briten und Amerikaner übertrug. Das lange Antennenkabel am Radio war für mich „meine Luftlage“. Königslutter blieb glücklicherweise von gezielten Bombenabwürfen verschont, einige Treffer zerstörten Fabrikgebäude am Bahnhof.

Der verheerende Bombenangriff auf Braunschweig am 15.10.1944 ist mir durch einen Kelleraufenthalt in Erinnerung. Ein fernes Donnergrollen war vernehmlich hörbar, was bei anderen Alarmen fehlte. Unser Vater nahm uns Kinder dann mit nach draußen und meinte zu uns: „Da seht ihr, wie Braunschweig brennt!“ (mir durch meine älteste Schwester erzählt) Der Eindruck dieses roten Himmels ist mir noch unklar in Erinnerung. Das in großen Mengen vor diesen Bombenangriffen abgeworfene „Lametta“, Metallfolienschnipsel zur Radarstörung, trieb manchmal weit ab und landete auf den Bäumen und den Wiesen um das Haus herum. Es war bei uns Kindern ein beliebtes Spielmaterial.  Ebenso war ein System von mannstiefen, zick-zack förmig angelegten Splittergräben auf einer Wiese hinter dem Haus besten geeignet zum Versteck-Spielen. Sie sollten wohl als Alternative zum Bombenschutz im Keller dienen, wurden aber nie benutzt.

Die Familie Barnstorf hatte beim Einzug in das Haus 2 die gesamte untere Etage für sich. Das änderte sich dann sehr bald durch zahlreiche Ein- und Umquartierungen. Für die durch Bombenangriffe bedrohte Stadt Braunschweig mußte im Umland Wohnraum für „Evakuierte“ und „Ausgebombte“ Menschen gefunden werden. Also zogen dann Kleinfamilien und Einzelpersonen in bunter Reihenfolge in diesen Jahren ein und wieder aus. Auch die Belegung der anderen Personalwohngebäude wurde immer enger. Die Wohnsituation war für uns Kinder kein Problem, es war viel eher ein enges, aber interessantes, buntes Leben mit vielen Kindern in unterschiedlichem Alter. Von der Situation in den Krankenstationen, die sich in den großen Gebäuden auf dem unteren Gelände der Anstalt befanden, konnte ich zu dieser Zeit nichts mitbekommen.  Die Verhältnisse dort müssen durch den akuten Platzmangel im gesamten Krankenhaus katastrophal gewesen sein, dokumentiert in vielen späteren Aussagen von Personal in verschiedenen Ermittlungsverfahren.

Ende 1944 lernte ich die für die nächsten Jahre engsten Freunde kennen: zum einen Peter Wegscheider, dessen Vater Ende 1944 aus Berlin kam und als Psychiater in Königslutter angestellt, und mit seiner Familie im Haus 2 einquartiert wurde, zum anderen Walther Meumann, Sohn des Krankenhausdirektors, dessen Familie bis 1945 im alten Hauptgebäude wohnte.

Erinnerungen an ein „Leben im Nationalsozialismus“ kann ich natürlich aus diesen Jahren nicht haben. Nur sind mir noch die Schulfibeln und Weihnachtskalender mit ideologisch, „germanischer“ Symbolik und Hakenkreuzschmuck in Erinnerung.

Ich kann mich auch an Gespräche meiner Eltern am Mittagstisch erinnern, es muss wohl im Frühjahr 1945 gewesen, die sich um die immer näher rückenden Westallierten drehten. Zu mir wurde auch sinngemäß gesagt: „Es wäre doch schön, wenn ein Knopfdruck die Brücken, mit den anrückenden Panzern darauf, sprengen könnte“ . Wir aßen gerade als „Panzerminen“ bezeichnete flach gebratene Gebilde aus Kartoffelbrei Resten, die zu Friedenszeiten auch „Puffmänneken“ genannt wurden. Die Unsicherheit über kommende Zeit war wohl groß.

Im Mai 1945 kam dann mit dem Einmarsch amerikanischer Verbände in die Region Braunschweig (12.April 1945) und dem Eintreffen einer amerikanischen Patrouille auf dem Krankenhausgelände der große Umbruch. Für uns Kinder wiederum ein seltsam abenteuerliches Erlebnis . Ein Trupp Soldaten erschien am 8. Mai auf der rückwärtigen Veranda des Hauses 2 (das ist mir erinnerlich) und muß dann das Haus auf versteckte Waffen und Dokumente durchsucht haben. Ich sehe noch meine Mutter irgendwelche Bücher in den Wohnzimmerofen stopfen. Meine Schwestern erzählten mir in späteren Jahren von diesem für sie so unglaublichen Vorgang – es waren ihre Fibeln und Schulbücher mit „braunen Inhalten“, die sie vorher sorgsam hatten behandeln müssen! Auch Wertgegenstände (Fotoapparate und Uhren) waren schon in den Tagen vorher in einer Kiste auf dem Dachboden versteckt worden. Aber der Suchtrupp hatte an diesen Dingen nicht das geringste Interesse.

In den nächsten Tagen wurden dann sicherlich die anwesenden Ärzte und das Verwaltungspersonal vernommen und Krankenhausakten beschlagnamt. Der gerade anwesende Dr. Robert Müller, ein „Euthanasie-Funktionär“, wurde am 28.5.1945 festgenommen und in ein kleines Untersuchungsgefängnis in der Stadt Königslutter gebracht. Dort hatte er dann im Juni '45 versucht sich zu erdolchen. (siehe dazu die Nachricht meines Vaters) Er wurde schwer verletzt in das Haus 10 des Krankenhauses gebracht und verstarb dort kurze Zeit später. An aufgeregte Gespräche meiner Mutter mit einigen Mitbewohnern des Hauses 2 kann ich mich noch erinnern.  Wie bei allen diesen Vorgängen vermischt sich selbst Erinnertes mit später Erzähltem, so auch das Folgende: Es wurde damals diskutiert, wie denn eine Pistole  in die Zelle des Gefangenen gelangt sein konnte und durch wen dies möglich wurde. Später wurde bekannt, dass Müller sich in einer Art „Harakiri“ mit einem Messer versucht hatte zu töten.

Auch mein Vater wurde im Rahmen der schon angelaufenen „Automatischen-Internierung“ von vermuteten staatstragenden Funktionären des NS-Regimes am 28. Mai festgenommen und wie Dr. Müller in das kleine Untersuchungsgefängnis in Königslutter gebracht.  An dieses Ereignis, das für die Familie doch so einschneidend war, kann ich mich merkwürdigerweise nicht erinnern. Ich überlege heute, warum auch die lange Abwesenheit meines Vaters so blass in der Erinnerung geblieben ist. Wahrscheinlich ist, dass meine Mutter uns von irgendeiner dienstlichen Abwesenheit unseres Vaters erzählt hat. Zu Weihnachten war mir jedoch das Fehlen des Vaters deutlich.  Meine Mutter berichtete später von den verschiedenen Versuchen herauszufinden, wo der Vater einsaß. Sie nahm Kontakte zu der Familie von Veltheim in Groß-Veltheim auf, weil sie von der Internierung Herrn v. Veltheims erfahren hatte. Er war ebenfalls durch die „Automatische Internierung“ festgenommen und in ein Lager verbracht worden, von dem Frau v. Veltheim nur ungenau wusste, dass es Westertimke bei Zeven wäre. Zusammen mit Frau Veltheim gelang dann eine Reise dorthin unter den Schwierigkeiten des maroden Schienenverkehrs.

Ganz deutlich sehe ich dagegen die Rückkehr meines Vaters in einer Nacht im April 1946 vor mir, wie er uns bei schummriger Beleuchtung durch eine „Schlaflampe“ begrüßte.

 Ich muß an dieser Stelle darauf hinweisen, dass das hier Aufgeschriebene ein Protokoll der eigenen Gedanken und Erinnerungen an diese Zeit darstellt, wobei das Eine oder Andere durch Erzählungen meiner Familie ergänzt wurde. Über die HAK in dieser Zeit ist umfangreich geforscht und ermittelt worden. Zu einigen meiner persönlichen Erinnerungen finden sich in den Akten Ergänzungen, die ich mit verwendet habe.

In diesen wirren Monaten der Jahre 1945/46 wurde unser Wohnhaus noch voller, die Familie Meumann zog mit 5 Personen ein. Es war die Mutter mit 3 jugendlichen Söhne und meinem Spielfreund Walther. Wie es hieß, war der Vater, Leiter des Krankenhauses, zu einem Einsatz an die „Ostfront“ beordert worden. Dies war bereits im Oktober 1944 geschehen, er blieb aber noch Direktor des Krankenhauses. (aus Akten erfahren)  Auch die Frau des Dr.Müller wurde wie die Meumanns in dieser Zeit aus dem Direktoren-Wohnhaus in das Haus 2 umquartiert.

Meine Erinnerungen an einige Personen aus dem Patientenstamm des Krankenhauses werden 1946 deutlicher: Milda Jahnke unsere Haushaltshilfe war durchgehend im Hause, zusätzlich halfen Männer aus dem Patientenstamm bei Gartenarbeit und Besorgungen in den etwas entfernter liegenden Geschäften des Königslutterer Stadtzentrums. Alles Männer, die auch vor 1945 schon tätig waren. Ein Name ist mir noch in Erinnerung, ein Herr Prostmeyer, der noch eine Weile nach 1945 für meine Mutter Einkaufsgänge machte.

Eine Person ist aber bei mir präsenter als alle anderen (abgesehen von Milda Jahnke): Es ist der ehemalige Lehrer Carl Schütt, der 1941 , von Hamburg kommend, in das Krankenhaus gelangte. Carl Schütt war häufig bei uns in der Wohnung und führte mit meinem Vater lange Gespräche über Literatur. Schon damals wurde die Krankenhaus-Unterhaltungsbücherei von ihm zusammen mit meinem Vater verwaltet. Ein Ausspruch von ihm, den er auf einem Gang mit meinem Vater zum Haus 2, 1947 geäußert hatte, und durch meinen Vater überliefert wurde, ist mir tief in Erinnerung geblieben: „...wir sind das Volk von Goethe und Schiller nicht mehr!“. Gedanken meines Vaters zu dieser Aussage hätte ich gern gehört, doch das ist eine der „nicht gestellten Fragen“, die bei einer erneuten Beschäftigung mit der elterlichen Vergangenheit im NS-Regime immer wieder aufkommen. In vergangenen Jahren habe ich Carl Schütts Äußerung mehr auf die entsetzlichen Berichte und Bilder von den Auflösungen der KZ bezogen. Vielleicht hat mich das bewogen, nicht noch näher nach zu fragen.Bei ihm kommt aber sicherlich auch die Erfahrung des eigenen Schicksals hinzu.

 Carl Schütt war mit weiteren Personen 1942 aus der Hamburger Psychiatrie Langenhorn in die „Durchgangspsychatrie“ Königslutter verlegt worden, und sollte im Rahmen der „Euthanasie“-Aktionen in das Vernichtungslager Bernburg weitergeleitet werden. Ende 1941 wurden die durch die zentrale Berliner Dienstelle in der Tiergartenstraße 4 („T4“) organisierten Verlegungen und Tötungen eingestellt. Die Vorgänge drangen zunehmend in die Öffentlichkeit und verursachten auch durch eine sogenannte „Kanzelrede“ von Kardinal August Graf von Galen, in der er unter anderem die von den Nazi-Ideologen propagierte Tötung von „unproduktiven“ Menschen geißelte, große Unruhe in der T4-Stelle. Bei den nachfolgenden, dezentralen Tötungen („kalte Euthanasie“), die auch in Königslutter vorgenommen wurden, war die „Produktivität“ eines Patienten ein Schonungskriterium, was auch schon vorher galt. Carl Schütt wurde (von meinem Vater ?) als wertvoll für die Betreuung einer Krankenhaus-Unterhaltungsbücherei bezeichnet und ihm blieb ein schlimmes Schicksal erspart. Gleiches gilt für den Patienten Prostmeyer, der als geeignet für allerlei Botengänge angesehen wurde. (Informationen aus den Ermittlungsakten 1948-1950). Carl Schütt war wie Milda Jahnke, die wohl nie von „Euthanasie“ bedroht worden war, bis zu seinem Tod in den '60er Jahren, eng der Familie verbunden.

 In der Nachkriegszeit setzte sich natürlich die drangvolle Enge in der HAK fort: Das Lazarett wurde aufgelöst, es zog ein Behelfskrankenhaus für den Kreis Helmstedt ein. Im Haus 3, unserem Haus gegenüber, wurden zusätzlich zu den schon dort wohnenden „Evakuierten“, die ersten schlesischen Flüchtlige untergebracht, Zimmer waren durch große Decken in Einzelzellen aufgeteilt. Im Haus 2 wurde es immer bunter: verschiedene Parteien bauten sich Kleintierställe für Hühner und Kaninchen auf der Veranda und in dem geräumigen Kellereingang. All dies war für meine Freunde und mich ein Abenteuerspielplatz erster Güte.

Im Rückblick kommen bei mir wieder Bilder vom Friedhof des Krankenhauses in Erinnerung, der etwas abseits, oberhalb der Straße von Oberlutter zum Tetzelstein im Elm liegt. Unser Spielgelände war damals ausgedehnt und bezog auch den Klosterteich („Anstaltsteich“) und den mit altem Baum- und Buschwerk bestandenen Friedhof mit ein. Gleich rechts am steilen Aufgang in den Friedhof liegt ein ebenes Geländestück, damals besetzt mit einer großen Anzahl von kleinen Grabstellen, die nicht alle kleine Kreuze trugen.  Diese Grabstellen verschwanden, so mir erinnerlich, nach und nach in den '50er Jahren. Ich bin mir nicht sicher, aber mir scheint ein Zusammenhang zwischen dieser „Überfüllung“ des Friedhofs und den auffällig hohen Sterberaten bei Patienten in den Jahren '43, '44 zu bestehen.

Im Haus 2 wechselten die Bewohner weiterhin schnell, das setzte sich bis in die '50er Jahre fort. Die vaterlose Familie Meumann war unser enger Nachbar, mal neben, dann wieder über uns. Mein Freund Peter Wegscheider verließ mit seiner Familie Königslutter, weil sein Vater Leiter einer Psychiatrie im hessischen Merxhausen wurde. Ich wurde mit Walther Meumann 1948 eingeschult und wir waren auch bis 1953 zusammen auf dem Gymnasium in Helmstedt. Erst ca. Ende 1952 war dann sein Vater wieder in Königslutter, wie ich annahm, als Spätheimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft. Erst nach meiner Beschäftigung mit den Dokumenten der Jahre 1948 bis 1951 wurde mir klar, dass Dr. Meuman 1949 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, aber nicht in Königslutter ansässig war.  (siehe auch den Lebenslauf von Meumann in: C. Beyer, Personelle Kontinuitäten in der Psychiatrie Niedersachsens, MHH Hannover ) Ich und meine Schwestern haben ihn in diesen Jahren dort nicht gesehen und unsere Eltern sagten dazu glaube ich nur, er ist immer noch in Gefangenschaft. Dr. Meuman wurde dann 1954 Leiter einer Psychiatrie in Moringen bei Northeim. Mit meinem Schulfreund Klaus Rittgerodt war ich dann einmal zu Besuch bei Walther. Das alte, dunkle Gemäuer machte damals einen unheimlichen Eindruck auf uns, die Einrichtung war weitgehend leer und wurde gerade zu einem psychiatrisch betreuten Krankenhaus für „Geistesschwache“ und Alkoholiker umfunktioniert. Bis 1945 befand sich darin ein sogenanntes „Jugendschutzlager“ (Jugend-KZ) für „auffällige Jugendliche“. Unter Auffälligkeit verstand man auch das Hören von Musik der amerikanischen Swing-Ära, wie Platten von Duke Ellington und das Handeln damit. (Günther Discher, unter Wikipedia). Walthers ältere Brüder waren zu der Zeit eifrige Hörer der Big-Band-Ära der '30er und '40er, was Klaus und ich in Moringen merkten – daher dieser Einschub zu einer merkwürdigen Koinzidenz, die mir beim Recherchieren über Moringen auffiel.

( Heute befindet sich auf dem Gelände eine Forensische Psychiatrie-Klinik (Information MRVZN Moringen).

Nach dem Weggang der Meumanns aus dem Haus 2 zog eine viel jüngere Generation von Ärzten nach, geboren Mitte der zwanziger bis Anfang der dreißiger Jahre. Die Leitung des Krankenhauses wurde erst in '60er Jahren schrittweise in jüngere Hände übergeben. 1958 wurde für den pensionierten Prof. Braun ein Arzt aus dem Landeskrankenhaus Lüneburg, ein Dr. Baumert, als Direktor eingestellt. Das Haus 2 war bis auf die Wohnung für eine Psychologin nicht weiter belegt. In das gesamte Obergeschoß zog die Familie Baumert ein. Ich hätte das nicht weiter erwähnt, aber diese Anstellung hatte einen klaren Bezug zur Hauptthematik meines Berichts.

Nach dem Abitur 1961 und dem folgenden Wehrdienst bis Mai 1962 hatte sich meine Aufmerksamkeit für Vorgänge am Krankenhaus verringert. Ende 1962 aber fiel mir auf, dass es um den Direktor Baumert Gerüchte über seine Vergangenheit in der NS-Zeit gab. Meine Eltern konnten mir nichts konkretes hierzu sagen, oder wollten es auch nicht. Bekannt wurde nur, dass ein Ermittlungsverfahren gegen Baumert eingeleitet werden sollte. Baumert hatte 1963 einen Herzinfarkt erlitten und war längere Zeit nicht im Dienst und auch nicht in der Wohnung über uns. Ich verlor den Vorgang aus den Augen, auch weil ich andere Dinge im Kopf hatte als das Schicksal eines Anstaltsarztes.

Die Denkschrift vom NLK gab mir dann die Aufklärung zum Fall Baumert. Im Rahmen der Ermittlungen gegen ihn, 1962, mußte er zugeben, für die Tötung von Kindern in der Kinderfachabteilung des Landeskrankenhauses Lüneburg in den '40er Jahren direkt verantwortlich gewesen zu sein.  Baumert ging vorzeitig in Pension und das Verfahren wurde eingestellt. Er lebte noch bis 1980.

 1966 zog die Familie Barnstorf in eine Wohnung in der Stadt Königslutter.

                                                                                                                                                                                                                                                     Geschrieben Anfang 2009