Addendum 2
Dieser – aus zwei Briefen zweier verschiedener Schreiber bestehende – hschr. Brief zusammen mit dem drei Jahre zuvor von Karl Utermöhlen an seine Nichte Lisa verfaßten (= Addendum 1) sowie einer Reihe von teils beschrifteten, teils unbeschrifteten Photos in einem neueren braunen DIN-A5-Umschlag zusammengefaßt. Von den vielen Photos ist ihm nur eines eingelegt, das im Brieftext nicht erwähnt wird.1 Das Briefpapier liniert, aus dünnem Leinen, 210×270 mm, also kürzer als DIN-A4.
Heimgarten-Bülach, d. 10. 12. 19352
Lieber Fritz u. liebe Lisa!
Beifolgend sende ich Euch die Sterbeurkunde von Eurer Urgroßmutter Hettenhausen geb. Deecke.3 Mein Vetter Theodor Hettenhausen4 hatte große Freude, daß wir uns einmal persönlich kennen lernten. Wir gingen zusammen auf den Friedhof und konnten auf Urgroßvaters Grab folgendes entziffern: Frh.[?] Christoff Ludwig Hettenhausen geb. 24. Aug. 1788 gest. 10. Dez. 1862.5
Ihr seid nun wohl so gut u. zahlt 1,35 Mk. an das Pfarramt in Reiffenhausen.6 Wie Ihr aus der beiliegenden Zahlkarte erseht bin ich bei der Gelegenheit zu hohen Ehren gekommen. 10 Fritzli Ehrt7 hatte mich nach Reiffenhausen begleitet, er ist dort gut bekannt, da er die Verwandten öfters besucht. Nach Münden sind wir auch zusammen gefahren.8 Am Montag9 trat ich dann die Heimreise über Wiesbaden an. Familie Gustav Utermöhlen10 habe ich leider nicht angetroffen, da alle an diesem Tage zu einer Silberhochzeit geladen waren und einen Tag länger in Wiesbaden zu bleiben war mir nicht möglich, da ich meine Rückkunft schon zu Hause angemeldet hatte. Einen ganz gehörigen Schnupfen habe ich von der Reise mit heimgebracht.
Seid nun beide recht herzlich gegrüßt.
Onkel Wilhelm.
11Ihr Lieben, da mein Liebster noch etwas Raum gelassen hat, möchte ich Euch auch einen herzlichen Gruß senden. Ich bin sehr glücklich meinen lieben Weggenossen wieder hier zu haben. Wie schön, das [sic] Ihr auch in Braunschweig wart.12 Ich freue mich schon auf nächsten 22 Sommer,│wo Ihr uns ja hier besuchen wollt. Von Erika13 erhielten wir heute gute Nachricht und von ihrem Kleeblättchen ein reizendes Bildchen. Die kleine Gerda, die im Sommer mit ihrem 24 Vater hier war, unser Patenkind,14 ist ein süßes Gör. Erika schrieb, sie könne am lautesten singen, verdreht aber alle Worte, singt statt Tannenbaum, o Tantebaum, wie rot[?] sind deine Blätter. Die strahlenden Kinderaugen möchte ich zu gerne mal beim Lichterbaum sehen. Wir haben hier tüchtig Winter, der Schnee liegt ziemlich hoch und Nachts friert es schon ordentlich. Vor vierzehn Tagen hab ich noch die letzten Rosen aus dem Garten geholt, hunderte von Meise<n> picken an unsere Fenster, man hat genug zu tun, die kleinen Freßmäulerchen[?] zu füllen, selbst Rehe und Füchse wagen sich nun schon näher ans Haus. Unser Adventskranz hatte am Sonntag schon 2 brennende Lichtchen,15 wie schnell wird es Weihnachten sein. Zu dem Fest wünschen wir Euch viel Freude und zum Jahreswechsel Gottes Segen. Bleibt gesund und seid herzlichst gegrüßt von
Eurer Tante Helene
1 Es handelt sich um eine kleine, an drei Rändern beschnittene, wenig kontrastreiche und schon recht verblaßte, schätzungsweise aus den 1910er-1930er Jahren stammende Aufnahme eines jungen Mannes in Reitstiefeln oder ‑gamaschen, Hemd, Schlips und Anzug, der mit angezogenen Beinen und auf den rechten Arm sich stützend im Gras neben einem Baume ruht, von dem nur ein paar Zweige seitlich in das Bild ragen. Auf der Bildrückseite Bleistiftvermerk «Karl U.?», dahinter Spuren, nur flüchtig ausradiert, eines vorherigen Vermerks «F. Kürschner». Um Friedel Kürschner handelt es sich bei dem Porträtierten in der Tat nicht, wie ein Vergleich mit den von ihm aus den Jahren 1930 und 1936 zahlreich existierenden Aufnahmen belegt. Ob es sich um Karl Utermöhlen handelt, scheint gleichfalls zweifelhaft, ist aber nicht ganz auszuschließen, denn von Karl sind uns nur wenige Aufnahmen überliefert, eine aus seinem 14. Lebensjahr und zwei aus seinen Altersjahren (zu allen drei vgl. Addendum 1/Anm. 7, Nr. 2. 4f.), was den Vergleich erschwert. – Möglich wäre, daß diese Aufnahme gar nicht hieher gehört, sondern zu Brief 4 vom 15. April 1923, wo Friedel seiner Cousine Käthe zwei nicht ihn selbst darstellende Bilder ankündigt, die dort jedoch fehlen (s. Brief 4/Anm. 9).
2 Dieser erste Brief in lateinischer Schrift, etwas ungeübte Hand.
3 Der Stammliste zufolge (s. Einleitung) handelt es sich bei dieser Urgroßmutter von Lisa Utermöhlen um Luise Deken (so die dortige Schreibung), die Mutter der Lisette Christine Wilhelmine Hettenhausen (1.7.1832-21.8.1900), die ihrerseits 1855 Georg Utermöhlen (18.8.1831-30.5.1920) heiratete und ihm (als siebentes Kind) Hermann (14.2.1868-8.11.1920), den Vater von Käthe und Lisa Utermöhlen, sowie (als achtes und letztes Kind) den unterzeichnenden Wilhelm (20.1.1871-?.?.1942) gebar.
4 Der Sohn eines Bruders von Wilhelms Mutter Lisette (Anm. 3).
5 Den Lebensdaten nach muß es sich bei diesem Urgroßvater um den Schwiegervater, nicht den Mann der als Urgroßmutter bezeichneten Luise Deken handeln, die, da ihre Tochter Lisette 1832 geboren wurde, um 1805/10 zur Welt gekommen sein wird. Es war also der Urgroßvater Theodor Hettenhausens und Wilhelm Utermöhlens; für Lisa und Fritz hingegen war es der Ur-Urgroßvater.
6 Reiffenhausen ist eine südlich von Göttingen und östlich von Hannoversch Münden gelegene Gemeinde im Landkreis Göttingen im Südzipfel Niedersachsens (Drei-Länder-Eck Niedersachsen, Hessen, Thüringen); 1973 zusammen mit anderen Gemeinden, darunter Ludolfshausen, dem Geburtsort von Lisette und Georg Utermöhlen (s. Anm. 3), zur Gemeinde Friedland (bekannt durch das Grenzdurchgangslager) vereint. Offenbar war Luise Deken in diesem Pfarrbezirk verstorben. Die Bitte um Erlegung der Gebühren für ihre Sterbeurkunde läßt darauf schließen, daß die Empfänger des Briefes den Verfasser eigens um dieses Dokument (vermutlich samt familienhistorischer Recherche auf dem Friedhof) gebeten hatten – vielleicht im Zuge ihrer eigenen Ahnenforschungen zur Erstellung der ‹Stammliste Utermöhlen, Zweig Bonafort, Heimgarten, Weferlingen, Peine u.s.w.›, die für uns Heutige eine unschätzbare Auskunftsquelle darstellt und die, da ihr letzter getippter Eintrag aus dem Jahre 1937 stammt, 1935 bereits in Planung oder Arbeit gewesen sein dürfte.
7 Vermutlich einer der beiden Söhne (vgl. Bülacher Neujahrsbl. 1993, a.O. [Einleitung/Anm. 9], S. 18a), vielleicht aber auch schon ein Enkel der ältesten Schwester des Briefschreibers, Ida (22.8.1856-20.11.1935), und ihres Mannes Karl Ehrt (26.8.1855-9.6.1900). Karl Ehrt, ein aus Elbingerode im Harz gebürtiger Lehrer, den Ida am 9.6.1881 noch in Ohrum geheiratet hatte, entstammte wahrscheinlich der verzweigten, bis heute bestehenden Handwerker- und Unternehmerfamilie Ehrt, die 1887 in Elbingerode ein Dampfsäge- und Hobelwerk mit Kistenfabrik gründete und später auch an dem zwischen Elbingerode und Rübeland gelegenen Bergwerk ‹Drei Kronen und Ehrt› beteiligt war. Da Karl Ehrt in Heimgarten starb, wo er zuvor ein ‹Sonnenheim› genanntes Erholungsheim betrieben hatte, muß Ida nach der Hochzeit zusammen mit ihm (und entweder auch zusammen mit ihren Eltern und ihren Brüdern Wilhelm und Karl oder, falls diese schon um 1875 fortgingen, erst nach ihnen) in die Schweiz ausgewandert, nach dem Tode ihres Mannes aber irgendwann zurückgewandert sein, denn sie selbst starb in Hannoversch Münden. Falls diese Vermutung stimmt, könnte Fritzli, worauf auch die schweizerische Verkleinerungsform seines Namens hinweisen würde, in der Schweiz geblieben sein und Wilhelm von dort aus auf seinem Verwandtenbesuch in Deutschland begleitet haben. Bei einem Sohn würde man allerdings erwarten, daß der Briefschreiber den zum Zeitpunkt der Abfassung seiner Zeilen keine drei Wochen zurückliegenden, die Reise möglicherweise überhaupt motivierenden, zweifellos aber irgendwie in sie eingreifenden Tod Idas, diesfalls also der Mutter, erwähnen würde. Daß dies unterbleibt, könnte dafür sprechen, daß Fritzli bereits der Enkelgeneration angehört, mithin aus Wilhelms Sicht kein direkter Leidtragender ist. Es könnte jedoch auch bedeuten, daß Wilhelm selbst kein enges Verhältnis zu seiner fünfzehn Jahre älteren Schwester Ida hatte, vielleicht gerade wegen des großen Altersunterschiedes, oder wegen ihres Weggangs aus Heimgarten. – Zu Fritzli Ehrt vgl. a. Brief 13/Anm. 31. – Die Z. 9 bezeugten «hohen Ehren», woran die Erwähnung Fritzlis absatz- und übergangslos anschließt, beziehen sich höchstwahrscheinlich nicht auf dessen Geleit, sondern müssen im Zusammenhang mit der Zahlkarte (ebda.) stehen: Es ließe sich spekulieren, daß Wilhelm auf ihr wie sein Ahne als «Freiherr» tituliert wurde.
8 Wahrscheinlich zur Beerdigung Ida Utermöhlens, s. vorausgehende Anm.
9 Das wird entweder der 9., also der dem Briefdatum unmittelbar vorausgehende Tag, oder bereits der 2. Dezember 1935 gewesen sein; beides ist mit Blick auf das Sterbedatum Idas (s.o. Anm. 7) möglich. Vgl. a. unten Anm. 15.
11 Diese Fortsetzung nach einer Leerzeile auf derselben Seite in sehr geläufiger deutscher Kurrentschrift.
12 In Braunschweig lebten zu dieser Zeit etliche Mitglieder der Familie Utermöhlen, namentlich Angehörige von Wilhelms beiden älteren Brüdern Albert (12.9.1863-?) und Hermann (14.2.1868-8.11.1920), u.a. auch des letzteren Ehefrau Anna Marie (22.9.1871-8.3.1942) mit ihrer ältesten Tochter Käthe. Offenbar waren die beiden Briefempfänger, Käthes jüngere Schwester Lisa und ihr Mann Fritz Barnstorf, der 1935 an der Provinzial-Heilanstalt Haldensleben bei Magdeburg als Arzt wirkte, anläßlich von Wilhelms Besuch zu einem Familientreffen nach Braunschweig angereist.
13 Tochter der Schwester Helenes, Maria Kürschner, und des Bruders von Wilhelm, Karl, also die Nichte der beiden Briefschreiber. Zu ihr vgl. a. Briefe 3, Z. 65ff. mit Anm.en; 18, Z. 18 mit Anm.; Addendum 1/Anm. 7, Nr. 5.
14 Wahrscheinlich die zweite Tochter von Helenes angeheiratetem Cousin Hermann Utermöhlen (2.1.1887-?) und seiner Frau Emma Katharine Brinkop (17.9.1899-?). Wenn es sich um diese (am 1.8.1929 in Hannover geborene) Gerda handelte – die einzige Gerda in der Familien-Stammliste –, war sie im Sommer 1935 knapp sechs Jahre alt. Inwiefern Erika Nachrichten über diese Cousine 2. Grades haben konnte, muß offenbleiben. Vielleicht lebte Erika, die sich in zweiter Ehe mit dem Hamburger Oskar Staege verheiratete (Brief 18, Z. 18 mit Anm.), 1935 nicht mehr in Heimgarten, sondern in Norddeutschland in der Nähe zu den Hannoveraner Utermöhlens. Theoretisch wäre es zwar auch möglich – und die «Kleeblättchen»-Metapher scheint es nahezulegen –, daß Gerda eine Tochter Erikas war (die ihres angeheirateten Nachnamens wegen nicht in der Stammliste auftaucht). Jedoch beschreibt Helene hier ein sehr junges Kind, wie es ihre zu diesem Zeitpunkt schon 53jährige Nichte Erika eigentlich nicht mehr gehabt haben kann; auch nicht als Stiefkind aus ihrer zweiten Ehe. Daß Wilhelm und Helene Gerdas Paten waren (Z. 24), spricht ebenfalls eher gegen ein großelterliches Verhältnis zu dem Kind, da Großeltern so gut wie nie als Taufpaten fungieren. Gehen wir also einmal von der Hannoverschen Gerda Utermöhlen aus, so schloß diese später, 1951, eine Bibliothekarslehre in Hamburg (!) ab, arbeitete von 1951 bis 1953 in der Landesbibliothek Hannover, studierte dann Germanistik und Romanistik in Göttingen, Paris und Heidelberg, wo sie um 1964 über Hermann Brochs Novellenzyklus ‹Die Schuldlosen› promovierte, und arbeitete nach einem Intermezzo beim Kindler-Verlag seit 1969 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Leibniz-Archiv der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover, heute Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek. Als Mitherausgeberin von Leibnizens allgemeinem historischen und politischen Briefwechsel sowie als Editorin der Korrespondenz zwischen Leibniz und der Kurfürstin Sophie von Hannover hat Gerda Utermöhlen sich einen Namen gemacht. Auch publizierte sie zahlreiche Aufsätze, Rezensionen und Bücher über Leibniz, bes. im Zusammenhang mit theologischen und politischen Fragen (Pietismus, Papsttum, Irenik/Reunionsversuche des 17. Jh., gelehrte Frauen im 17. Jh., hannoverscher Hof). Im Ruhestand ab 1991 begann sie, einen Teil des schriftlichen Austausches zwischen Leibniz und Sophie von Hannover aus dem Französischen ins Deutsche zu übersetzen. Gerda Utermöhlen starb am 22. August 1997. In den Studia Leibnitiana 29/1 (1997) 3-5 findet sich ein Nachruf von Herbert Breger, dessen spanische Übersetzung durch Alberto Guillermo Ranea in der argentinischen Revista de filosofía y teoría política 33 (1999) 37-40 mir zur Verfügung stand.
15 Der zweite Advent war 1935 am 8. Dezember, also zwei Tage vor Abfassung dieser Zeilen.