IV. Das Dorf und seine bäuerlichen Lebensformen im Mittelalter

Aus dem Dunkel der Vorund Frühgeschichte taucht der Name des Dorfes zum ersten Male auf, als er in einer Schenkungsoder Tauschurkunde des Jahres 965 nach Christi Geburt erwähnt wird. Damals gab es in dem Vorlande des Harzes zwei Bistümer, die schon zur Zeit des Frankenkönigs Ludwig des Frommen begründet waren: Halberstadt und Hildesheim. Der Bekehrer unserer heidnischen Vorfahren zur Christentum, ‘der aus Westfalen kommende Bischof Ludgerus, der später heilig gesprochen ward und dessen Namen noch eine aus seiner Zeit stammende Kapelle sowie das Kloster, die spätere Klosterdomäne St. Ludgeri in Helmstedt tragen, hatte schon die Zweiteilung der kirchlichen Aufsicht über neu gegründete Kirchen z. B. Atzum oder Lucklum vorbereitet. Die ostfälischen Kirchen östlich des Okerflusses überwachte das Bistum Halberstadt, während die westlich gelegenen Hildesheim unterstanden.

Das reiche und mächtige Fürstengeschlecht der Ludolfinger, verwandt mit den Billungern, aus dem dann der Enkel Ludolfs, der von 870-882 in Deutschland herrschende Frankenkönig Ludwig Ill. Stammt, hatte in Gandersheim ein Kloster nach Benediktiner-Ordnung um 850 gestiftet, aus dem später ein hochberühmtes Reichsstift wurde. Zur Erhaltung solcher frommen Gründungen mußten nach biblischer Weisung die Abgaben des 10. Teils aller Erträgnisse von Acker und Vieh der Landbesitzer, seien es abhängige Bauern oder freie Grundherren dienen.

Der Zehnte, anfangs nur mit Korn, Feldfrüchten anderer Art oder Großvieh, Hühnern und Eiern zu zahlen, konnte später auch durch Geld entrichtet werden. So etwas sieht schon die Urkunde vor, in der der Bischof von Halberstadt der Äbtissin von Gandersheim 965 den Zehnten aus 4 Dörfern zugesteht, die seiner Aufsicht befohlen waren.

Diese Urkunde gibt Abb. 1 wieder. Sie wird im Nieders. Staatsarchiv Wolfenbüttel (Urk.Abt. 6, Bd. 1, Nr. 9) aus dem früheren Besitz Gandersheims verwahrt. In der 3. Zeile als letztes Wort lesen wir „Wei-“ und finden dann zuerst in der 4. Zeile „-verlingi”. Das ist die erste, schriftliche Erwähnung uns eres Dorfes, dessen durch 1000 Jahre verbürgtes Bestehen wir danach jetzt feiern.

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Abb. 1 Die Urkunde aus dem Jahre 965 (Nds. Landesarchiv Wolfenbüttel)

 Der Wortlaut der lateinischen Urkunde ist gekürzt dieser: „In nomine sancte et individue trinitatis (= im Namen der heiligen und unteilbaren Dreieinigkeit) ego Bernhardus Haluerverstandensis episcopus... (übertrage ich, Bernhard, Bischof von Halberstadt) dominae Gerbirga Gandershemensis monasterii venerabitis abbatissae (= der Domina Gerbirga, Äbtissin des verehrungswürdigen Münsters Gandersheim) ... interventione Ottonis imperatoris praesente... (= auf Anregung und in Gegenwart des Kaisers Otto und... des Erzbischofs Wilhelm von Mainz, des Bischofs Altfrid von Hildesheim etc.): omnem decimationem quatuor mansorum et villarum scilicet Dengdi, Witmari, Weiverlingi, Suthereme (= den gesamten Zehnten von 4 Feldmarken und Dörfern, das sind Denkte, Wittmar, Weferlingen und Sottmar) ...zur Verbesserung der Ernährung und Bekleidung der Kanonissen. Dafür sollen dem Halberstädter Münster jährlich 2 Fuder (carradas) Wein aus den Gandersheimer Stiftsgütern oder bei sterilitate terrae – Unfruchtbarkeit des Bodens — vier Mark Silbers gegeben werden. „Facta sunt hec anno dominice incarnationis DCCCCLXV (965) indictione VIII anno regni domini Ottonis XXX imperii V.” = (Dies ist geschehen im Jahre 965 nach der Fleischwerdung des Herrn... im 30. Jahr der Herrschaft Ottos, im 5. seit er Kaiser ward.) Diese Urkunde ist oft im Druck veröffentlicht, so schon im 18. Jahrhundert bei Harenberg und Zleuckfeld und in neuerer Zeit bei Schmidt, Urkundenbuch von Halberstadt Bd. 1, 5. 16 Nr. 34. Prof. Goetting (früher Staatsarchiv Wolfenbüttel), der besonders die Geschichte des Reichsstifts Gandersheim erforscht hat, bezweifelt in einer vor einigen Jahren veröffentlichten Arbeit, daß sie 965 geschrieben wurde und nimmt aus verschiedenen Gründen (Schreibweise, Siegel kam 965 noch nicht vor) an, daß sie erst um 1250 zum Nachweis der in ihr genannten Vermögenswerte „gefälscht“ wurde, wie dies oft im Mittelalter geschah. Aber auch wenn dies so sein sollte, brauchten wir heutigen Weferlinger bei der Datierung unserer Tausend-Jahr-Feier kein schlechtes Gewissen zu haben. Die Siedlung Weferlingen ist wie die meisten ihrer Nachbardörfer viel älter als 1000 Jahre, wie oben dargelegt wurde. Auch Eilum, das urkundlich schon 888 erwähnt ward, ist nach der Ortsnamenforschung (Odonhem = Heim des Odo) in seiner Gründung in die Jahrhunderte um Christi Geburt zu verlegen, obwohl es nach der urkundlichen Erwähnung scheinen könnte, es sei nur etwa 80 Jahre älter als Weferlingen.

 

Solche „Aktennotizen“, wie man die Erwähnung von Dorfnamen in Schenkungsurkunden nennen könnte, sind rein zufällig und nur von jeweiligen Rechtshandlungen hervorgerufen. Sie sagen nichts über das Alter der Dörfer aus, deren Namen ja damals schon feststanden und schon deshalb ein viel längeres Leben der Siedlung bezeugen.

In diesem Leben hatte sich bis zur Nennung in solchen Urkunden seit der germanischen Frühzeit kaum etwas geändert. Weil es aber zum Verständnis späterer Verhältnisse notwendig ist, sollen die grundlegenden Zustände bäuerlicher Siedlungen mit Blick auf unser Dorf kurz geschildert werden.

Die Sippe, die Verwandtschaft des Begründers eines Hofes war in der Vorzeit die Einwohnerschaft dessen, was man später ein „Dorf“ nannte.

Manche aus dieser Sippe taten sich in den endlosen Kriegen um Landnahme und Verteidigung des Besitzes hervor und wurden zu „edelfreien“, d. h. Von ihren Stammeshäuptlingen unabhängigen Leitern der dörflichen Geschicke. Diese Edelfreien wählten denjenigen unter ihren Genossen, der zum Führer im Krieg besonders begabt war, zum Her-zog, der das. Heeresaufgebot der Gaugenossen befehligte und vor ihm einher-zog. Dieser verteilte zum Dank für die Heerfolge die Nutzung des urbar gemachten Landes zur Leihe (= Lehen) an die Edlen, aus deren Gesamtheit im Laufe von Jahrhunderten das wurde, was später Adel genannt ward. Die ältesten Geschlechter daraus sind der Uradel, dem die regierenden Fürstenhäuser unserer deutschen Geschichte entstammen. Lehensund Dienstadel sind nachgeordnete Herrschaftsschichten dieser Entwicklung, die wir überall in Europa in den letzten zwei Jahrtausenden mit Unterschieden vorfinden. Die Edlen, zu denen wir auch die Herren von Weferlingen zählen müssen, waren ihrem Herzog zum Dank für ihr „Lehen“ verpflichtet, ihm bei Kriegen Gefolgschaft zu leisten.

Ihre Bauern aber, die zuerst Sippenverwandte gewesen waren, später aber auch Zugezogene sein konnten, begaben sich seit etwa dem 8. Jahrhundert in den Schutz. Ihres Edelherren, weil sie nicht gern von ihrem Hof in den Krieg zogen. Eine allgemeine Wehrpflicht gab es in jenen Zeiten natürlich nicht, weil es noch keinen „Staat“ gab, der erst seit der französischen Revolution theoretisch und praktisch bis zur Perfektion entwickelt wurde. Die schutzbedürftigen Bauern wurden abhängig von ihrem „adligen“ Schutzherren, denn sie mußten für den Schutz, den er ihnen mit angeworbenen Reisigen gewährte, von dem Ertrag ihrer Äcker etwas abgeben. Sie mußten ihm auch auf seinem eigenen Hofe oder darüber hinaus auf dem später so genannten „Amtshof“ des Landesfürsten mit ihrer Hände Arbeit Spanndienste leisten. Der zehnte Teil des Ackerertrags gehörte aber vorweg der Kirche in Gestalt eines Klosters, einer städtischen oder dörflichen Kirche, den dann auch im Laufe des Mittelalters andere Grundherren auf dem Kauf-, Leihoder Geschenkwege erwerben konnten.

Man hat diese Abhängigkeit der Bauern von ihrem Grundherren im Norden und Nordosten Deutschlands als Leibeigenschaft bezeichnet und mit russischen Verhältnissen gleichgesetzt. Diese Definition trifft aber auf die braunschweigischen Bauern, die im frühen Mittelalter nach einem alten Rechtsbegriff Laten oder Litonen genannt wurden, kaum im gleichen Maße zu. Auch hier war es natürlich rechtlich möglich, ein bäuerliches Grundstück mitsamt der darauf wohnenden und arbeitenden Sippe einem anderen Grundherren zu übertragen, es abzumeiern.

So werden in einer Schenkungsurkunde aus dem Jahre 1331 das Dorf Weferlingen und mehrere seiner Höfe genannt, als Borchard und Gunzelin, Ritter von Asseburg, die Söhne Ekberts, dem Kloster zum Heiligen Kreuz (in Rennelberghe apud Bruneschwich) für 200 Mark reinen Braunschweiger Gewichts verkaufen: „Septem mansos sitos in campis ville Weverlinghe et duas curias ac duas areas et aggerem qui dieitur Wal cum suis fossatis et pomerium, ac locum qui dicitur dikstede et spatium dictum molenstat versus orientem situm et unam aream solventem annuatim quatuor pullos et pratum unum et quondam spatium cum solventibus et duos mansos litonicos cum ipsis litonibus presentibus et futuris. Quorum mansorum unus solvit annuatim unum chorium triticii et unum siliginis. Alter vero mansus solvit sedecim solidos in festo Sankti Michaelis. Et Heysonem. Et uxorem suam litones et eorum pueros. Et molendinum in eadem villa Weverlinge solvens annuatim quindecem solidos in festo Walburgis cum... omnibus bonorum pertinentiis... silvis, campis, pratis, pascuis, aquis, viis, fructuis... Testes erant Ludolfus de Honleghe, Johannes de Ampleve, Gevehard de Wevelinge milites... et plures alii fide digni. Actum et datum anno domini millesimo tresentesimo primo in festo sanititatis beatae Mariae virginis.” Die Urkunde, die im Staatsarchiv Wolfenbüttel verwahrt wird, ist mit zwei Siegeln des Asseburger Wappens versehen. :

Sie ist darum größtenteils wörtlich wiedergegeben, weil in ihr zuerst heute noch vorhandene Grundstücke und sogar ein damaliger Einwohner Weferlingens genannt werden. Die Übersetzung lautet: „(Wir verkaufen) sieben Hufen, gelegen auf den Feldern des Dorfes Weferlingen und zwei Höfe und zwei Hofgrundstücke und den Damm, der Wall genannt wird, mit seinen Wassergräben und den Apfelgarten und den Platz, der Teichstätte genannt wird und den Raum namens Mühlenstätte, nach Osten gelegen, und einen Acker, der jährlich 4 Hühner zinst und eine Wiese und einen gewissen Platz mit seinen Einkünften und zwei Litonenhöfe mit den Litonen selbst, den gegenwärtigen und den zukünftigen. Von diesen Höfen zinst der eine jährlich einen Scheffel Weizen und einen von Roggen. Der andere Hof aber gibt 16 Schillinge ... am Feste St. Michaelis. Und den Heyso und sein Weib, die Litonen, und ihre Kinder. Und das Mühlengrundstück im gleichen Dorf Weferlingen, das jährlich 15 Schillinge abgibt am Walpurgisfeste (= 30. April) mit allem Zubehör, wie Wäldern, Feldern, Wiesen, Weiden, Gewässern, Wegen und Früchten.

Die Zeugen waren Ludolf von Hondelage, Johannes von Ampleben, Gebhard von Weferlingen, alles Ritter ...und mehrere andere glaubwürdige Leute. So geschehen und niedergelegt im Jahre des Herrn 1331 am Fest der Reinigung der hochseligen Jungfrau Maria.” Das Mühlengrundstück, am Abfluß des Burggrabens gelegen, wo es noch heute an dem wasserlos gewordenen Mühlenbach früheren Zeiten nachtrauert, ist schon vor dieser Urkunde von 1331 in dem Copialbuch des Kreuzklosters (Staatsarchiv Wolfenbüttel VII B 267) genannt, als 1270 die Äbtissin Margarete von Gandersheim dem Kloster den Zehnten und 1 Hufe vom Mühlengrundstück in Weferlingen überläßt.

Heyso aber ist der erste Weferlinger Einwohner, der nicht aus der Herrenschicht stammte, dessen Rufname — Familiennamen entstanden erst später — aber uns trotzdem überliefert ist. Vielleicht saß er auf einem der Höfe, die jetzt mit Nr. ass. 1-3 bezeichnet werden. Wenn die Weferlinger einmal Straßennamen einführen sollten, dann dürfen sie diesen ehemaligen Mitbürger als Paten nicht vergessen.

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Abb. 2 Das Dorf und seine Umgebung 1767 (Aus Flurkarte Nds. Landesarchiv Wolfenbüttel)

 

Wo wohnte Heyso? Noch aus der Flurkarte, die im Rahmen der von Herzog Karl I. Angeordneten Dorfbeschreibungen im Jahre 1767 von ]J. J. Christoph Schmidt gezeichnet wurde, und aus der die Abb. 2 einen Ausschnitt darstellt, kann man ablesen, daß die „Wüsten Gärten“ am „Tiefen Wege“, einem Rest der alten Wallhecke zwischen Barnstorfs Scheune und der kleinen Meesche einmal zinspflichtige Höfe und Gärten von 6 bis 7 Bauern waren, die ursprünglich dem Burgherren dienten. Ihre Hofstätten und Gärten waren wüst geworden, d.h. liegengelassen und zu Feldland verwendet, weil die Litonen sich nach Schleifung der Burg auf deren ehemaligem Gelände im Osten des Dorfes niederlassen konnten. Nur die Höfe Nr. 1 bis 3 haben auch heute noch Anteil an der „Burgstelle“. Sie lagen aber bis 1300 in zwei Reihen vor dem westlichen Eingang zum Burggelände, auf den der oben erwähnte „Schöppenstedter Stieg“, der heutige Feldweg, zuführte. In einer Arbeit von Massberg, „Die Dörfer der Vogtei Denkte“ (Stud. u. Vorarb. Hist. Atlas Nds. Heft 12, 1930) wird auch Weferlingen, das früher als sogenanntes Haufendorf bezeichnet wurde, eingehend als Beweis für seine These behandelt, wonach solche Dorfanlagen nicht zufällig, sondern planmäßig aus einem Edelhof mit davor erbauten Höfen der grundhörigen Bauern entstanden seien. Die der sehr verdienstvollen Arbeit entnommene Abb. 3 zeigt die vermutliche Lage der Höfe vor dem eigentlichen Burggelände im Osten. Sie waren alle, wenigstens anteilig dem Kreuzkloster zehntpflichtig und so kann man sie mit den in der obigen Urkunde genannten Höfen gleichsetzen.

Um das Dorf und seine Höfe lief seit dem frühen Mittelalter die Wallhecke mit Dornbüschen und Weidenflechtzäunen als erste Abwehr gegen plündernde Rotten. Wer in späteren Zeiten sich außerhalb dieser Dorfgrenze ein Haus baute, gehörte nicht zu der sogenannten „Reihe“ der Altansässigen und wurde „Anbauer“ genannt. In den Rahmen der Wallhecke fügten sich fast alle noch heute vorhandenen Wohngebäude, Hofstätten und andere Häuser hinein. Erst die allerjüngste Zeit hat mit dem Bau von Wohnhäusern im Norden und Süden des Dorfes diesen Rahmen gesprengt. Wenn man auf Abb. 2 oder 4 die Dorfkarte des 18. Jahrhunderts betrachtet, wird man bemerken, daß sich an der Größe des Dorfes und der Lage seiner Höfe kaum etwas geändert hat.

Die Feldmarken jedoch, die um die Dörfer lagen, sahen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ganz anders aus als heute, wo gerade Landstraßen und Feldwege sie durchschneiden und die kleinen Ackerstreifen in den alten „Wannen“ der Dreifelderwirtschaft sich durch die Separation des 19. Jahrhunderts in große, übersichtliche „Pläne“ verwandelt haben. Nur vereinzelt bieten noch kleine Buschund Baumgruppen den Vögeln, den besten Helfern des Bauern gegen Insektenschädlinge, Gelegenheit zum Nisten. In den alten Zeiten gab es überall Hecken von Haselbüschen, Ellern (Erlen) und Höltgebüschen. (Hageoder Hainbuchen), von Schlehe und Kreiken, einer Art süßer Schlehe, auch Griechenbeere genannt, deren Kerne schon in Steinzeitfunden bezeugen, daß unsere Altvordern nach dem Mammutsteak oder dem Bärenschinken auch ein süßes Kompott zu schätzen wußten. Die Bäche, die zwischen dieser Heckenlandschaft flossen, waren wasserreich, klar und rein und gaben Fischen und Krebsen Nahrung. In den Muscheln fand man sogar, wie noch vor Jahrzehnten in der Lüneburger Heide, vereinzelt Perlen. Diese Landschaft, heute nur etwa mit der Knicklandschaft Holsteins oder Dänemarks zu vergleichen, verschwand, als die Separation mit ihrer Neuvermessung der Äcker, mit der intensiven Feldbebauungsmethode vor über 100 Jahren und mit Kunstdünger und Drillmaschinen ihr Gesicht veränderten. Es verschwanden nicht nur die Brachfelder und die Männer mit Säeschürzen und Sensen, sondern auch die heckenheimliche Heimat vieler Singvögel. Dafür kamen die Insektenschädlinge, dafür kam die vom größtmöglichen Nutzen geformte, langweilige und öde Kultursteppe. Was Tausende von Jahren als unveränderlich galt, wandelte in Jahrzehnten sein Gesicht.

Es ist der eigentliche Sinn dieser Schrift, daß sie den heutigen Dorfbewohnern Weferlingens anläßlich einer Zeitmarke, wie sie eine Tausend-Jahr-Feier darstellt, soviel wie möglich vom Leben der dörflichen Ahnen in solcher Zeitspanne verständlich zu machen versucht.

Denn historisch gewordene und in Chroniken oder Geschichtswerken verzeichnete Begebenheiten hat dies kleine Dorf nicht aufzuweisen. Aber seine Bewohner erlebten den Alltag mit seiner Plage und die Sorgen um Frieden oder Krieg genau wie wir heute. Nur -, sie waren noch eingebettet in den Halt einer langen, langen Überlieferung, dem die Menschen unserer Zeit sich bewußt zu entziehen trachten. Wer es leichter hatte oder haben wird, ıst schwer zu entscheiden.

Der wesentliche Unterschied zwischen den alten Zeiten eines Dorfes, die wir bis zur Separation rechnen dürfen, und den heutigen liegt darin, daß ehedem der Bauer nicht unbeschränkt über Besitz und Nutzung seines Ackers entscheiden konnte, daß darüber hinaus auch die anderen Dorfbewohner — und es gab nur wenige, die nicht mit ihrer wirtschaftlichen Existenz an die Höfe gebunden waren, — an jene sehr alte Ordnung geknüpft waren und daß niemand so ganz tun und lassen konnte, was er wollte. Das sogenannte Meierrecht und die Dreifelderwirtschaft, beide schon in Frühzeiten der Besiedlung entwickelt, setzten jedem Individualismus enge Schranken. Erst die sogenannte Bauernbefreiung und die Parolen der französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts, die Freiheit und Gleichheit für Jedermann forderten und schließlich durchsetzten, schufen die heutigen Möglichkeiten für einen auf. Der Anerkennung individueller Ansprüche gegründeten demokratischen Rechtsstaat. Gegen ihn formierten sich in unserem chaotischen Jahrhundert, das die Bindungen verachtet, mächtige Kräfte einer Reaktion, die einerseits die faschistische, andererseits die kommunistische Diktatur des Staates über den Menschen ins Werk setzten.

Wenn wir nun in die Zeiten der Abhängigkeit bäuerlicher Dorfbewohner von Dreifelderwirtschaft und Meierrecht zurückschauen, so müssen wir wissen, daß es die erstere schon in bronzezeitlichen und germanischen Dörfern gab und daß Karl der Große, der sie nach der Eroberung Ostfalens zur Grundlage seines Verwaltungssystems machte, damit nur gesetzlich regelte, was die Natur und die damals verfügbaren ackerbautechnischen Möglichkeiten vorschrieben.

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Abb. 3 Vermutliche Dorfform um 1300 (Nach Maßberg, a. a. O)

 

Die gesamte Feldmark, die um ein Dorf lag, war in die drei Teile: Winterfeld, Sommerfeld und Brachfeld geteilt. Das Brachfeld wechselte alle 3 Jahre und damit wechselten auch die zwei übrigen Feldanteile. Man verfügte nur über Stalldünger von Pferden, Rindern, Schweinen oder Ziegen. Es gab nur wenige, noch keineswegs auf Ertrag gezüchtete Getreidesaaten. Von den mistspendenden Kühen wird berichtet, daß man sie, die im Winter mit dem oft kärglichen Wiesenheu auskommen mußten — es gab noch keine Rübenschnitzel oder Rübenblätter („Blage”) — im Frühjahr als kraftlose Kreaturen am Schwanze aus dem Stall ziehen und auf „Schleepen“ zur Weide ziehen mußte („Schwanzvieh“). Alles dies änderte sich, als im 19. Jahrhundert der Chemiker Justus von Liebig in Gießen den Kunstdünger fand, dessen Lagerstätten in den Kalibergwerken auch der Asse dann intensiv ausgebeutet wurden und unserm Weferlingen und seinen Bewohnern neue Arbeitsmöglichkeiten gaben. Der Begründer der modernen Landwirtschaftslehre Albrecht Thaer in Celle lehrte zu gleicher Zeit eine völlig neue Methode der Bodenbearbeitung. Zusammen mit der politisch erreichten „Ablösung“ der bisherigen Grundlasten (Spanndienste usw.) und mit der Separation, die jedem Hof einen festliegenden Ackerbesitz zuwies, bedeuteten diese ‚Reformen eine Revolution des dörflichen Lebens.

Bis dahin hatte die Dreifelderwirtschaft die Besitzer der Höfe, ob Ackerleute, Halbspänner oder Köthner – später waren noch die Brinksitzer und Anbauern dazugekommen -— zu einer Lebensgemeinschaft zusammengefügt. Denn jeder Hof hatte im Winter-, Sommerund Brachfeld nur Anteile, die in früheren Zeiten in ihrer Lage auch wechselten. Man benutzte dabei zum Vermessen, das im Abstande von Jahrzehnten geschah, ein aus Weidenzweigen geflochtenes Kabel (daher „verkabeln” und Ortsnamen wie Kabel-Stöckheim). Dies Maß wurde auch „Rute“ genannt und ist in diesem Sinne auch heute im Zeitalter des metrischen Systems noch durchaus gebräuchlich. Mit ihm mißt man jetzt noch die Fläche aus, die man an einem Morgen umpflügen konnte, als man Pferde oder Ochsen den Pflug ziehen ließ.

Die Lage der zahllosen, schmalen Ackerstreifen, zwischen denen nur wenige Wege liefen, zwang die Bauern dazu, gemeinsam und zur gleichen Zeit ihre Felder zu bestellen und abzuernten (Flurzwang). Persönliche Eigenwünsche waren dabei ausgeschlossen. Jeder im Dorf und in der „Reihe“ der Höfe hatte sich dem Nutzen der Gesamtheit zu fügen. Die Weiden für Schafe, Kühe und Schweine, für deren Herden man den Gemeindehirten hielt, aber auch die Wiesennutzung und die Holzanteile im Elm, waren „Allmende“”, d.h. Allgemeinbesitz der Dorfschaft oder „Menne“.

Über alle gemeinsamen Angelegenheiten der Menne entschied das Burmal, zu dem jeder stimmberechtigte Bauer (die Brinksitzer und Anbauern gehörten nicht dazu) erscheinen mußte, wenn der Bauermeister den weißen Stock herumschickte. Dann tagte die „Gemeinheit” auf dem Thie (= Thingoder Dingplatz). Vielleicht lag diese Stätte in Weferlingen bei den Burgwällen oder am Treffpunkt beider Dorfstraßen vor Barnstorfs Hof, der im vorigen Jahr durch eine Grünanlage von der Gemeinde so verschönt wurde. In anderen Dörfern, wie z. B. In Räbke, sind die alten Thiestätten oft noch durch einen Ring alter Linden kenntlich.

Die Bauern, die beim Burmal frei über alle Dorfangelegenheiten beraten und auch Strafen bei Verletzungen der Dorfrechtssatzungen verhängen konnten (man nennt diese wohl auch „Weistümer” und viele davon sind von den Brüdern Grimm gesammelt), durften dagegen nicht ohne Zustimmung ihres Grundherren über Veränderungen, Verkauf oder Vererbung ihrer „Hufen“ (etwa 30 Morgen, daraus ward das Wort „Hof“) verfügen. Für den Gerichtsschutz, den ihm der Grundherr gewährte, für die Ablösung des Wehrdienstes, für die Genehmigung seiner Heirat oder der Hofübergabe an den Sohn – für alles hatte der Litone oder Grundhörige (zum Ackergrund Gehörende) Abgaben in Form von Vieh oder Getreide, dazu auch den genau festgelegten Spanndienst mit Pflug und Wagen auf dem Hofe des Grundherren zu leisten. Er empfing dafür in gewissen Abständen den sogenannten Meierbrief, der ihm schon seit dem 15. Jahrhundert durch Anordnungen eines weisen Herzogs ein Erbrecht in gewissem Umfang sicherte. Das Weinkaufsgeld, das dafür zu entrichten war, deutet an, daß ursprünglich wohl festlich mit Wein der Akt solcher „Anmeierung” gefeiert wurde. Das Besthaupt, ursprünglich das beste Stück Vieh, später in Geld umgewandelt, war bei. Der Heirat des Meiers fällig. Die Hauptabgabe an den Grundherren, hervorgegangen aus den Ansprüchen der Kirche und geregelt durch die fränkische Besatzungsmacht unter Karl dem Großen um 800 und seine Nachfolger, blieb bis zur Separation um 1835, also 1000 Jahre lang, der „Zehnte“.

Jede 10. Garbe der Ernte wurde vom „Zehntmaler“ bezeichnet und zunächst in die Zehntscheune gefahren, die die Klöster und später die adligen Grundherren in den Dörfern errichtet hatten. Die Zehntscheune des Kreuzklosters stand noch bis 1820 auf dem Anteil des Hofes Nr. 3 in der Burgstelle. Damit die Stiegen leicht ausgezählt werden konnten, stellte man 20 Garben in ihnen auf. So blieb es bis in die neueste Zeit, bis die Mähdrescher das Stiegenstellen überhaupt überflüssig machten.

Zu den Dienstleistungen, die ein Meier (der häufige Familienname Meier kommt daher) dem Grundherren zu verrichten hatte, kamen dann seit dem 15. Jahrhundert mit dem Erstarken der herzoglichen Macht gegenüber dem Lehnsadel noch Abgaben, die wir heute als Steuern bezeichnen. Auch sie bestanden in Naturalabgaben, später in Geldzahlungen umgewandelt, aber auch in Spanndiensten mit Pferd und Wagen, mit Barte (Beil) und Hacke.

Die Verwaltung der Herzöge, die in ihrer befestigten Residenz Wolfenbüttel saßen, die Herzogliche „Kammer“, hatte ihre Unterämter auf den herzoglichen Ackerhöfen, später auch Domänen genannt (von domanium = Herrengut). Weferlingen ging, wie alle Nachbardörfer nach Evessen zum „Amte”. Dort ward auch Gericht gesprochen wie in älteren Zeiten, als der Gaugraf (Gograf, Gogrebe, vgl. Familienname Hogrefe) vom Landesfürsten mehrmals im Jahr unter die Gerichtslinde gesandt wurde.

In Evessen, dessen geschichtliche Entwicklung Prof. Hahne zur 1000-Jahr-Feier 1952 mustergültig in einer ähnlichen, kleinen Festschrift wie der vorliegenden schilderte, wurde auch jeder Ehevertrag, jedes Testament, jede Hofübergabe sowie die Größe und Lasten jedes Hofes der Dörfer in die Amtshandelsbücher und Erbregister eingetragen. Sie sind größtenteils noch im Staatsarchiv Wolfenbüttel vorhanden und bilden neben den Kirchenbüchern die ergiebigste Quelle für Dorfund Familienforschung.

Für den Schutz, den der Herzog mit seinen angeworbenen Söldnern und Reisigen den Bauern in Kriegszeiten geben sollte, wurde der „Scheffelschatz“” gezahlt, dem sich beim Vorrücken der Türken auf Deutschland der „Türkenschatz” hinzugesellte. Für den Gerichtsschutz gab der Bauer den „Voigtshaber”. Aber auch für die herzogliche Tafel hatte er durch Eier oder „Rauchhühner“ zu sorgen. Das waren rauhe, also noch junge Hühner, zu denen hie und da auch ein „Zinshahn“ kam, dessen roter Kamm gleichfalls seine Jugend und Zartheit bezeugte. (Redensart: Rot wie ein Zinshahn!) Das „Vasselabendgeld” sollte wohl ursprünglich die Kosten des Fastnachtsfestes im Wolfenbütteler Schloß verringern.Der Bauer feierte billiger mit „Brannewienskoschale“, die aus Branntwein mit eingebrocktem Honnigkauken (Honigkuchen) bestand und auch zu Silvester nicht fehlen durfte. Wenn eine Prinzessin heiratete – und der Hof von Braunschweig-Wolfenbüttel verstand es. Gute Partien als Zarin von Rußland oder Kaiserin von Österreich zu finden -, dann war der „Bedemund“ (Bede = Bitte des hohen Herrn an seine Untertanen) fällig, damit eine ordentliche Aussteuer beschafft werden konnte. Spanndienste waren als „Harzfuhren“ zu leisten, die Steine für herzogliche Bauten aus dem Harz, aber auch aus Elm und Asse nach Wolfenbüttel brachten. Die „Burgvesten“ dagegen wurden als Handdienst beim Bau der Befestigungswerke benötigt.

Auch bei der von dem technisch und industriell sehr interessierten Herzog Julius, dem Förderer des Erzbergbaus im Harz um 1576 geplanten Verbreiterung der Altenau, die er schiffbar machen wollte, haben die Weferlinger Handdienste leisten müssen. Sie halfen wohl auch als Treiber bei Herrenjagden im Elm und das sog. „Schinkenholz”, das bis vor einigen Jahrzehnten noch als Deputat im Frühjahr an Weferlinger Höfe geliefert ward, soll nach allerdings unverbürgter Überlieferung bei einer solchen Jagd vom Herzog als Dank für ein angebotenes, offenbar besonders gutes Schinkenfrühstück gewährt sein. Schon früh hatten sich Unterschiede bei den Abgaben und Diensten je nach Größe der Höfe (Zahl der Hufen) herausgebildet. Dabei kam es oft zu Streitigkeiten zwischen adligen Grundherren und dem „Amt“ oder der „Kammer“ des Herzogs. Jeder beanspruchte die Arbeitsleistungen für sich. Meistens zog der Bauer den Kürzeren und mußte dann beide Herren bedienen. Im 16. Jahrhundert hatten die Weferlinger Ackerleute in Evessen jährlich 2 Tage in der Brache und je 2 Tage in der Sommerund Wintersaat zu pflügen, ferner je einen Tag zu wenden (Heu), zu rohren (Rohr für Strohdächer zu schneiden) und zu felgen (Wagen zimmern), dazu 6 Fuder Brennholz aus dem Elm ins Schloß zu fahren. Hinzu kamen je zwei Tage für Mist-, Kornund Heufuhren, so daß außer den unregelmäßig angesetzten Burgvesten immerhin etwa 15 Tage Dienst für das Amt sie belasteten. Halbspänner und Kotsassen waren entsprechend weniger verpflichtet. Die Verpflegung oder „Pröwe“ bei diesen Arbeiten lieferte der Dienstherr als derbe Vorkost (Zuppe oder Stücke = belegte Brode). In der Erntezeit gab es das dünne Koventbier, das noch in meiner Jugend als „Eerenbaier“ in Steinflaschen aus Schöningen geliefert wurde. Der Arbeitstag währte von Sonnenaufgang bis -niedergang.

Die Dorfgemeinde selbst erhob bis ins 19. Jahrhundert kaum steuerartige Abgaben außer den Verpflichtungen gegenüber Pfarrer und Lehrer sowie der Besoldung des Küsters oder Opfermannes (Familienname Oppermann!), des Gemeindehirten und des Pannemannes oder Flurhüters. Der mußte darüber wachen, daß keine Übertretungen beim Weiden des Viehes auf den Gemeindeängern oder beim sogenannten Flurzwang vorkamen. Der Schuldige wurde mit einer Buße in Geld, auch „Bruch“ genannt, bestraft, die in die Gemeindelade wanderte und nach einer vielsagenden herzoglichen Verfügung nicht „versoffen” werden sollte.