Brief, hschr., schwarze Tinte, drei Seiten auf zwei Blättern des ‹M.K.›-Papiers (s. Brief 27), die beide am rechten und linken Rand je oben und unten an exakt denselben Stellen zwei kleine Einrisse aufweisen, welche, faltet man den Brief wieder zusammen, genau aufeinander zu liegen kommen. Kein Umschlag.
Camana [sic], via Arequipa, Peru,
den 28. April 1932.
Meine liebe Käthe,
Ich kam gerade von einer Reise nach Lima zurück, als ich hier in Camana Deine beiden Briefe vorfand, am 20.4. erhielt.1 Der eine mit der so netten Osterkarte vom 15.3. und den andern [sic] vom 1. März;2 mit einem schönen Gedicht von Ricarda Huch. Das Gedicht hat einen Fehler, daß es eben zu schön ist; und man gibt sich zu gerne kurz solchen Gedanken hin.3
8 Mitte März fuhr ich nach Majes zu meinen Bekannten und von dort mit denselben nach Arequipa wo wir die Ostertage über waren.4 Von dort flog ich nach Lima. Es sind ca. 820 km und fliegt man diese Strecke │ je nach den Zwischenlandungen in 4-4½ Stden. also mit 180-200 km die Stde. Alles der Küste entlang und ist die Fahrt wunderschön.5 Auch Lima ist in den letzten Jahren eine moderne Stadt geworden und habe ich mich die fast drei Wochen die ich dort war sehr wohl gefühlt. Man vermißt doch in einem so verlassenen Winkel wie Camana,6 die < >7 Anregung die der Geist eben einmal braucht und auch das Auge benötigt Abwechslung. So habe ich also die dortige Zeit richtig ausgenützt und habe außer den wenigen geschäftlichen Angelegenheiten Zeit genug gehabt das Leben dort so gut es ging zu genießen. Erst wieder in der Stadt hat man gesehen, wie eben doch furchtbar armselig ║II.║ man hier auf dem Lande lebt, besonders so im Hinterlande wie Camana [sic]. Aber dagegen ist vor der Hand noch kein Mittel da. Vielleicht werde ich von diesem Jahr ab, auf eigene Rechnung Land bearbeiten. 20 Unsere Firma muß der schlechten Lage halber ihre Arbeiten hier einstellen dieses Jahr8 und dann werde ich sehen, ob ich Land zu günstigen Bedingungen mieten kann.
9In den nächsten Wochen wird sich das entscheiden und kann ich Dir hoffentlich bald gute Nachricht zukommen lassen.
Ich grüße Dich heute und bleibe stets Dein alter
Friedel.
1 Grammatikalisch wie sachlich etwas unklar. Wenn Friedel die Briefe bereits «vorfand», kann er sie ja eigentlich nicht an einem bestimmten Datum «erhalten» haben — doch vermutlich will er einfach sagen, daß der Tag seiner Rückkehr und somit des «Vorfindens» der Briefe für ihn eben der Tag ihres Erhalts war (mithin der 20.4.), unabhängig davon, wann sie tatsächlich eingetroffen waren. Eine andere Möglichkeit wäre, daß ein Adlatus während Friedels Abwesenheit das Eingangsdatum 20.4. auf den Umschlägen notiert hätte, was freilich implizieren würde, daß die beiden im Abstand von zwei Wochen abgeschickten Briefe am selben Tage eintrafen, und somit weniger wahrscheinlich ist.
2 Semikolon sic.
3 Bei dieser uninformativen (und im übrigen recht stereotypen: vgl. Briefe 28, Z. 7-10; 32, Z. 13f.) Aufnahme des Gedichts durch Friedel scheint es witzlos, Mutmaßungen darüber anzustellen, welches Poem aus dem riesigen Œuvre der Ricarda Huch (1864-1947) – deren Familie nebenbei bis kurz vor ihrer Geburt in Braunschweig ebenfalls in der Neuen Welt, im brasilianischen Porto Alegre gelebt hatte! – Käthe ihrem Cousin zugedacht haben könnte. Und doch drängt sich folgende Überlegung geradezu auf und sei uns als Spekulation hier gestattet: Käthe könnte das von Friedel selbst in seinem letzten Brief verwandte, für ihn ungewöhnlich emphatische Wort von der «Sehnsucht» (ebda., Z. 8) als Schlüsselwort aufgenommen und ihm mit dem gleichnamigen Gedicht der Huch gleichsam ausbuchstabiert – und zugleich mit der Stimme des lyrischen Ichs beantwortet – haben, was umso naheliegender scheint, als der letzte Vers ausdrücklich vom «Alpsohn» und seiner Sehnsucht spricht. «Sehnsucht.// Um bei dir zu sein,/ Trüg’ ich Not und Fährde,/ Ließ’ ich Freund und Haus/ Und die Fülle der Erde.// Mich verlangt nach dir,/ Wie die Flut nach dem Strande,/ Wie die Schwalbe im Herbst/ Nach dem südlichen Lande.// Wie den Alpsohn heim,/ Wenn er denkt, nachts alleine,/ An die Berge voll Schnee/ Im Mondenscheine.» Gerade dieser letzte Vergleich wirkt wie ein Echo der Friedelschen Gefühle beim Betrachten des ihm von Käthe zugesandten Defner-Kalenders (ebda., Z. 20ff.; vgl. a. Brief 17, Z. 13-15!). Auch daß dieses Liebesgedicht zu den bekanntesten der Autorin überhaupt zählt und mehrfach vertont worden ist, 1931 z.B. von Hans Pfitzner (Sechs Klavierlieder op. 40, Nr. 3), spricht eher dafür als dagegen, daß Käthe Utermöhlen es kannte und weiterschenkte. Friedels etwas abwehrende Reaktion wiederum, die das Schöne als einen «Fehler» bezeichnet und sich ihm, anders als noch im vorausgehenden Briefe dem Defner-Kalender, nurmehr «kurz» hingeben mag (s.o. Z. 7), könnte zum einen damit zu erklären sein, daß er die Zentralaussage des Gedichts («Mich verlangt nach dir») als irgendwie heikel oder verfänglich empfand – zum anderen aber mit der aus den folgenden Briefzeilen deutlich werdenden Aufmunterung, die seine jüngsten Erlebnisse ihm nach der düstereren Stimmung von Brief 28 verschafft hatten: Friedel hatte neue Eindrücke gesammelt und eine berufliche Perspektive gewonnen, womit die Sehnsucht nach der zurückgelassenen Alpenschönheit wieder zurücktreten konnte. – Nun, es bleibt eine Spekulation. Träfe sie aber zu, wäre Käthe zu bewundern für die Feinfühligkeit und Treffsicherheit, mit der sie Friedels Empfindungen vom letzten Brief aufnahm und widerspiegelte.
4 Vermutlich handelt es sich bei diesen «Bekannten» um das anderwärts (Brief 26, Z. 18) als «gute[] Freunde» bezeichnete Ehepaar Gnamm von der Hacienda San Vicente im Majes-Tal, mit dem Friedel auch schon Weihnachten gefeiert (Brief 23, Z. 58f.) und einen längeren Kuraufenthalt in Arequipa und Umgebung verbracht hatte (Brief 24, Z. 47-54); s. a. Briefe 31, Z. 7, und bes. 32, Z. 24-27, wo Friedel nicht nur seine Zuneigung zu den Gnamms begründet, sondern auch die verbale Brücke von ihnen als seinen «Bekannten» zu ihnen als «Freunden» schlägt.
5 Zu dieser Zeit gab es mindestens zwei kommerzielle Fluglinien (Post- und Passagiertransport) in Peru, mit denen Friedel Kürschner geflogen sein könnte: die Compañía de Aviación Faucett S.A., kurz Faucett Perú, die seit September 1928 zwischen Lima und Talara in Nordperu einerseits und Lima und Arequipa im Süden andererseits verkehrte, und die 1928/29 unter Federführung der Pan American World Airways gegründete Pan American Grace Airways (Akronym: Panagra), die ihren Jungfernflug von Lima nach Talara absolvierte, bald aber auch andere Städte in ganz Lateinamerika anflog und in Peru zusammen mit dem Flugzeughersteller Huff-Daland die Peruvian Airways Corporation ausgründete. Während die Faucett Perú mit drei Maschinen der einmotorigen Stinson Detroiter (max. 6 Passagiere) unterwegs war, von der ab 1934 in Lima eine neue Variante (F-19) gebaut wurde, setzte Panagra/Peruvian Airways Fairchild- (3-4 Passagiere) und dreimotorige Ford-Modelle (8-17 Passagiere) ein. Für die letztere Fluggesellschaft und das Jahr 1930 wird allerdings eine Flugzeit zwischen Arequipa und Lima nicht von 4-4½, sondern von 5½ Stunden angegeben (The Aircraft Yearbook for 1930, hg. Aeronautical Chamber of Commerce of America. New York: D. Van Nostrand 1930, S. 516). Viereinhalb Stunden dauerte demnach die Strecke zwischen Lima und Camaná, welcher Ort Friedel eigentlich auch viel näher gelegen haben müßte. Ebenfalls dagegen, daß Friedel mit Panagra/Peruvian flog, könnte sprechen, daß der 20. April, wenn es denn der Tag seiner Rückkehr war (s.o. Anm. 1), ein Mittwoch war, während die Südrichtung Lima-Camaná-Arequipa jedenfalls 1930 von Panagra/Peruvian nur freitags bedient wurde. – Vgl. in zitiertem Jahrbuch auch das Kapitel über Peru (S. 291f.) sowie die photographische Aufnahme eines Fairchild-Eindeckers beim Flug über die küstennahen Anden (ebda., S. 3) – ein Blick, wie Friedel ihn aus seinem Kabinenfenster genossen haben wird.
6 Fehlender Akzent und falsches Komma sic.
7 Kaum entzifferbar; klar scheint nur, daß das Wort auf «ige» endet – evtl. «nötige», obwohl Friedel das Wort sonst anders schreibt (vgl. jedoch annähernd ähnliche Okkurrenzen in Brief 34, Z. 69. 77) und es hier zudem tautologisch wäre.
8 Daß Emmel Hnos. in Camaná wegen des Verfalls der Baumwollpreise (s. Brief 27/Anm. 2) nicht durchhalten würden, hatte Friedel bereits im Herbst des Vorjahres vorausgesehen (ebda., Z. 10-12) – für diesen Fall allerdings einen Neuanfang in den USA ins Auge gefaßt (ebda., Z. 13) anstatt wie nun eine Übernahme des ihm vertrauten Landes und fortgesetzte Residenz in Peru. – Das heißt auch, daß die angedeuteten «geschäftlichen Angelegenheiten» (s.o. Z. 16), derentwegen Friedel nach Lima gereist war, nicht im Zusammenhang mit etwaigen Auswanderungsplänen gestanden haben können. Aus späteren Briefen wird deutlich, daß sich manche der mit der Landpacht verbundenen Fragen wohl nur in Lima klären ließen (32, Z. 50-54; ■■).
9 Ab hier kleinerer Einzug sic.